Joe Navarro ist ein ehemaliger FBI-Agent und ein Spezialist für menschliches Verhalten. In Deutschland ist er vor allem bekannt durch sein vor kurzem veröffentlichtes Buch: Die Psychopathen unter uns: Der FBI-Agent erklärt, wie Sie gefährliche Menschen im Alltag erkennen und sich vor Ihnen schützen. In diesem Buch befasst er sich mit pathologischen Persönlichkeiten und wie sie schnell mit Checklisten erkannt werden sollen. Doch Checklisten bergen eine Gefahr - warum, das möchten wir anhand eines Spiegel-Online-Interviews mit Navarro kommentieren und ebenso auf andere wichtige Dinge hinweisen.

psychopathen, 6%, sott flyer
© sott.netPsychopathen regieren unsere Welt. Sechs Prozent der Weltbevölkerung sind genetisch geborene Psychopathen. Wissen sie, was das für den Rest von uns bedeutet?
SPIEGEL ONLINE: Herr Navarro, in Ihrem Buch schreiben Sie, dass eine einzige Begegnung mit einem Psychopathen ausreicht, um unser Leben zu ruinieren. Ist das nicht ein bisschen übertrieben?

Navarro: Nein, wir sind in Gefahr! Es gibt immer wieder Menschen, die uns ausnutzen. Bei Psychopathen denken die Menschen an Typen vom Schlage Hannibal Lecters. Aber man findet sie überall, wo Menschen aufeinander treffen, in der Politik, in der Wirtschaft, im Beruf, in der Schule, im Elternhaus, in der Kirchengemeinde. Sie kennen bestimmt auch einen.

SPIEGEL ONLINE: Ich? Nein.

Navarro: Doch. Wie alt sind Sie?

SPIEGEL ONLINE: Mitte Zwanzig.

Navarro: Dann haben Sie sicherlich schon ein oder zwei Menschen mit gefährlichen Persönlichkeiten kennengelernt.
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Die Schätzungen, wie viel Prozent der Gesamtbevölkerung Psychopathen sind, schwanken zwischen 1% und über 10%. Nach unseren Recherchen scheint es aber wahrscheinlicher zu sein, dass die Schätzungen von rund 6% wohl eher der Wirklichkeit entsprechen. Dabei kann dieser Wert von Land zu Land um einige Prozentpunkte auf- oder abwärts schwanken. Also ist es durchaus möglich, dass der Journalistin in ihrem Leben deutlich mehr Psychopathen über den Weg gelaufen sind.
SPIEGEL ONLINE: Also gut, wie kann ich die das nächste Mal besser erkennen?

Navarro: Durch sorgfältige Beobachtung. Es zählen die kleinen Dinge. Wenn beispielsweise jemand stirbt, und die Person ist gleichgültig. Menschen mit gefährlichen Persönlichkeiten werden immer versuchen, Sie zu dominieren - sei es physisch oder psychisch. Ich unterteile in vier verschiedene Typen. Um diese Leute mit gefährlichen Persönlichkeiten leichter zu identifizieren, habe ich eine Checkliste erstellt. Ich bin natürlich kein Psychiater oder Psychologe - die Listen ersetzen also keine Diagnose. Ich beschreibe, wie man gefährliche Persönlichkeiten anhand ihres Verhaltens erkennt.

SPIEGEL ONLINE: Auf Ihren Checklisten stehen Dinge wie "arrogantes Benehmen" und "mokiert sich über Leute, die sich an Regeln halten". Woher weiß ich, dass der Typ tatsächlich zum Problem werden kann - und nicht einfach nur ein Pöbler ist?

Navarro: Die Summe macht's.
Checklisten können zu vorschnellen Urteilen führen, was im sozialen Umgang nicht förderlich, ja sogar destruktiv ist. Psychopathen mit einer gut ausgebildeten Maske der Vernunft können oftmals ihre wahre Natur vor uns so gut verstecken, dass sie genau wissen, wie sie sich verhalten müssen, um nicht aufzufallen. Sie sind Meister der Täuschung und nutzen unsere "Schwächen", die auf menschlicher Empathie basieren, für ihre Zwecke aus.

Wenn man also einem Psychopathen begegnet, der eine gut ausgebildete Maske der Vernunft trägt, ist es unwahrscheinlich, dass dieser sich "arrogant" oder in irgendeiner Weise auffällig benehmen wird. Er wird für diejenigen Menschen eine Maske tragen, die für ihn besonders nützlich sind. Dabei kann die Maske manchmal "entgleiten" gegenüber anderen und für ihn nicht nützlichen Personen, wo durchaus arrogantes Verhalten auftreten kann. Oftmals braucht es Monate oder sogar Jahre, bevor man ihm auf die Schliche kommen kann und dann auch oft nur durch genaue Beobachtungen aus verschiedenen Blickwinkeln und besonders von äußeren und von für ihn nicht "nützlichen" Personen. Daher würden wir meinen, dass es nicht nur "sorgfältige Beobachtung" vonnöten sind, wie Navarro sagt, sondern "sorgfältige und bestens informierte Beobachtung über einen langen Zeitraum". Damit möchten wir Lesern abraten, in irgendeiner Form vorschnelle 'Diagnosen' zu tätigen.

Denn stellen Sie sich folgendes Szenario vor, um die Situation zu verdeutlichen; Sie haben Ihren (psychopathischen) "Partner des Lebens" kennengelernt und dabei tragen Sie die rosarote Brille, kritische Anmerkungen von Ihren Freunden werden ignoriert, die zum Beispiel auf arrogantes, grobes und antisoziales Verhalten hinweisen, doch anstatt diese Anmerkungen zu beachten, werden diese unter den Teppich gekehrt... Dann ist es bereits zu spät und der Psychopath wird sein Bestes getan haben, Sie von Ihren Freunden zu isolieren und Sie stehen letztendlich alleine da und sind von ihm abhängig.
SPIEGEL ONLINE: Ehrlich gesagt, wenn ich mir die Listen anschaue, könnte ich auch ein paar Sachen ankreuzen. Hier zum Beispiel: "Ist ungeduldig mit anderen." Müssen sich meine Kollegen vor mir in Acht nehmen?

Navarro: Nein, ab 15 Kreuzchen sollten Sie sich Gedanken machen. Aber keine Angst, wenn auf Sie so viele Punkte passten, wüsste Ihr Arbeitgeber schon längst Bescheid - die Kollegen hätten sich beschwert. Sie hätten in Ihrer Akte einen Eintrag, dass Sie ein Problem darstellen. Im Durchschnitt kann jeder vielleicht ein bis fünf Punkte auf einer der Listen ankreuzen. Ihre Kollegen und Ihre Familie müssen erst ab 25 Kreuzchen in einer Sparte auf Abstand gehen.

SPIEGEL ONLINE: Die Charakterisierungen, die Checkliste - das hört sich ein bisschen sehr einfach an.
In der Tat, die Aussage hört sich wirklich sehr einfach an und die Anmerkung der Journalistin ist durchaus berechtigt, wichtig und verständlich. Denn es ist oftmals nicht leicht solche Menschen, besonders wenn man nicht genug Wissen über Psychopathie besitzt, zu identifizieren und es besteht die Gefahr, vorschnell Menschen als Psychopathen abzustempeln, die es in Wirklichkeit gar nicht sind. Und dies hilft wirklich niemandem.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

Navarro: Studien zeigen, dass in den Gefängnissen etwa doppelt so viele männliche Psychopathen wie weibliche sitzen. Das kann aber auch daran liegen, dass Gewalttaten viel öfter verfolgt werden und es meist Männer sind, die aggressiv werden. Emotionale Misshandlungen werden einfach nicht so oft zur Anzeige gebracht. Ein Beispiel: Etwa 30 Prozent aller Psychiatrie-Patienten sind Borderline-Persönlichkeiten, davon sind 85 Prozent Frauen. Ich glaube, Männer sind gewaltbereiter und landen dann im Gefängnis. Frauen suchen stattdessen psychologische Hilfe.
Nach unseren Recherchen scheint es in der Tat Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Psychopathen zu geben. Die Diagnosemittel, um psychopathische Persönlichkeiten zu diagnostizieren, basieren zum Großteil auf Studien an männlichen Psychopathen im Gefängnis.

robert hare, psychopathen
Doch, wie schon zuvor erwähnt, befinden sich die meisten Psychopathen eben nicht im Gefängnis und üben auch nicht unbedingt offensichtliche Taten aus, die sie ins Gefängnis bringen könnten. Man könnte sagen, dass die Psychopathen, die in Gefängnissen studiert werden, wohl zu denjenigen gehören, die nicht so schlau bzw. gebildet sind und dadurch eine relativ schlechte oder 'defekte', Maske der Vernunft tragen. Genauso wie es bei normalen Menschen ein Spektrum gibt, gibt es auch bei Psychopathen ein Spektrum. Die einen sind schlauer und gebildeter - was sie viel effizienter und gefährlicher macht für die Gesellschaft als Ganzes und dazu führen kann das sie Gesetze geschickt umgehen können - und andere sind eben nicht so gebildet und landen dann oft hinter Gittern.

Es besteht also durchaus eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es weitaus mehr weibliche Psychopathen gibt, als dass es durch diese Studien zum Ausdruck gebracht werden kann. Der Modus Operandi von weiblichen Psychopathen scheint sich in gewissem Maße von dem der Männer zu unterscheiden und deshalb ist es wahrscheinlich, dass sie schwerer durch die heute gängigen Methoden identifiziert werden können.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben 15 Jahre als Profiler beim FBI gearbeitet. Warum teilen Sie jetzt Ihre Geheimnisse?

Navarro: Eine Frau hat mir erzählt, dass sie und ihre Kinder auf Knien vor ihrem Mann sitzen mussten, während er mit großen Gesten erklärte, was sie alles falsch gemacht hatten. Sie hat sich so geschämt und nie jemandem davon erzählt. So etwas kommt häufig vor. Die Betroffenen glauben immer, dass die Situation schon irgendwann besser wird. Das ist ein ganz häufiger Fehler. Uns wird beigebracht, dass man miteinander reden soll, um den Konflikt zu lösen. Aber bei wirklich gefährlichen Persönlichkeiten macht das alles nur schlimmer. Die Leute sollen das wissen.

SPIEGEL ONLINE: Angenommen, der Ernstfall tritt ein und ich werde Opfer eines Psychopathen. Was kann ich tun?

Navarro: Erstens: Erzählen Sie so vielen Menschen wie möglich davon. Wenn Sie auf irgendeine Art und Weise missbraucht werden, dokumentieren Sie das. Und wenn Sie sich nur selbst eine E-Mail schreiben. Zweitens: Schaffen Sie Grenzen. Sagen Sie: "Nein, wir beide werden nicht zu zweit dieses Gebäude verlassen." Und: "Nein, Sie dürfen mich nicht anschreien." Und distanzieren Sie sich, wenn Sie können! Sonst wird Sie der Psychopath fertigmachen.
Um es noch einmal zusammenzufassen: Checklisten bergen immer die Gefahr, Dinge zu vereinfachen und es wird immer Ausnahmefälle geben, wo sie nicht zutreffen und genauere und umfassendere Mittel benötigt werden. Um Psychopathen zu erkennen, wird ein Netzwerk benötigt, in dem man sich austauschen kann und akkurates Feedback erhält, und oftmals können viele Jahre vergehen, um psychopathisches Verhalten zu erkennen, besonders dann, wenn es sich um Psychopathen in Anzügen handelt (d.h. in gesellschaftlich angesehenen Positionen wie z.B. Politiker, Ärzte, Pfarrer, Lehrer). Dennoch ist es ermutigend, solch einen Artikel im Spiegel zu lesen und die Ansätze, dieses Wissen zu verbreiten, erscheinen uns sehr sinnvoll.

Um weiteres Wissen zu erlangen, lesen Sie dazu auch unsere veröffentlichte Serie über Psychopathie: Ebenso empfehlen wir unser Buch zum Thema Psychopathie und der daraus resultierenden Ponerologie:

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© SOTTPolitische Ponerologie: Eine Wissenschaft über das Wesen des Bösen und ihre Anwendung für politische Zwecke