Siebzig Jahre nach dem 2. WK und fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist Deutschland wieder von „Sturm und Drang“ ergriffen, aber diesmal von Ost oder West kaum bemerkt.

europäische und deutsche Fahne
© Reuters/Rainer Jensen
Ohne ernsthaften Versuch, Mythen zu zerstören, ist es unmöglich zu erkennen, was als neuer, diskreter Versuch Deutschlands zur Hegemonie-Ergreifung interpretiert werden kann.

Im Gegensatz zu dem, was derzeit vom US-“Think-Tank-Land” propagiert wird, ist das politische Berlin unter Kanzlerin Merkel kein Vermittler zwischen den noch dominierenden USA und dem „aggressiven“ Russland.

Im Moment scheint es Realität, dass Berlin eher den Eindruck vermittelt, nach Washingtons Musik zu singen - mit geringen Variationen, während es Russland züchtigt. Das ist trotz der soliden Energie-, Handels- und Geschäftsbeziehungen mit Moskau der Fall, obwohl Deutschland ein Drittel seines Rohgases importiert und die deutsche Industrie, Betriebe und Konzerne schwer in Russland investiert haben.

Im Gegensatz zu einem zweiten Mythos sucht das politische Berlin keine “Stabilität” in Europas östlichen Grenzländern, eher aber unwidersprochenes Vasallentum. Die unbarmherzige Integration Osteuropas in die EU, von Berlin angeführt, war ebenso eine Strategie zur Eroberung neuer Märkte für deutsche Exporte wie auch zur Errichtung einer Pufferzone zwischen Deutschland und Russland. So ist Deutschland für alle drei baltischen Staaten, bereits Vasallen, der größte Handelspartner.

Ein weiterer Mythos ist zudem, dass Berlin seine - konterproduktiven - Sanktionen gegen Moskau nicht aufheben könne solange die „Sicherheit“ Zentral- und Osteuropas nicht gewährleistet sei. In Wahrheit würde Deutschland lieber die völlige politisch-ökonomische Kontrolle über das Umland der ehemaligen UdSSR ausüben.

In der EU selbst, die nun in einer giftigen, von post-demokratischen, ungleichen und von Austerität [Sparsamkeitszwang] gepeitschten Entwicklung ohne sichtbaren Ausweg versumpft, führt Deutschland bereits politisch und wirtschaftlich.

Deutschland unter Kontrolle?

Inmitten des derzeitigen intellektuellen Sumpfes der EU, wo, um Yeats zu zitieren, „den Besten alle Überzeugungen fehlen, während die Schlechtesten voller passionierten Dranges sind“ - wuseln, bildlich gesprochen, schmutzige neoliberale Ideologen unter ihren Pfründen in diesem kafkaesken Tempel der Mittelmäßigkeit - Brüssel - herum, dass es selbst einem modernen Diogenes schwerfiele, einen informierten Beobachter zu finden, der Deutschlands Spiel durchschaute.

Als leuchtende Ausnahme der Historiker und Anthropologe Emmanuel Todd, Autor des Essays von 2002 „Nach dem Imperium“, welcher die Kartographie des amerikanischen Untergangs schonungslos darstellte: In einem langen, auf Deutschland fokussierten Interview von 2014 in www.les-crises.fr , hat Todd diesen geopolitischen Spielball bestens gekickt.

Todd beschäftigt sich intensiv mit der Funktionsstörung des Westens, die sich zunächst als Europa ist „virtuell im Krieg mit Russland“ ausdrückt. Er sieht die ängstliche, krankhafte „Fixierung“ auf Russland als Suche nach einem Notausgang, oder besser, als „die Kreierung eines Feindes, die zu einer minimalen Kohärenz des Westens nötig ist. Die Europäische Union wurde gegen die UdSSR gegründet, ohne den [eingebildeten] Gegner Russland kann sie nicht existieren.

Der wahre Deal steckt jedoch hinter der EU: das deutsche Projekt, das Todd als Projekt der Stärke identifiziert, betrieben „um deutsche Forderungen durchzusetzen, die schuldengeplagten Länder des Südens zu versklaven, um Frankreichs Bankensystem ein paar Peanuts hinzuwerfen.“ Und dieses Projekt der Stärke kann nichts anderes als die unheilvolle Tür zu „Deutschlands immensem Potential zu politischer Irrationalität“ zu öffnen - ein momentan sehr herausgestelltes Thema, mit all jenen Plagiaten zum Untergang des Dritten Reichs.

Todd identifiziert, was Lacan den “großen europäischen Ungenannten“ („nicht Benannten“) nennen würde. „Der Schlüssel zur Kontrolle der EU als Erbe des Sieges von 1945 ist die Kontrolle über Deutschland.“

merkel obama
© Flickr / Cyrus Farivar CC BY-NC-SA 2.0
Gerade jetzt löst sich jedoch diese Kontrolle auf, wenngleich noch chaotisch, und dies bedeutet “die beginnende Auflösung des amerikanischen Imperiums.” Und imperialer Untergang - sichtbar anhand unzähliger Niederlagen und Zeichen der Abnahme - führt Todd zu einer „Bombe“, nämlich zur tatsächlichen Bedrohung für die USA, viel gefährlicher als Russland - „welche außerhalb des Imperiums liegt“ - und diese ist Deutschland.

Und was ist mit der Bedrohung Russlands durch Deutschland? Todd ist fest davon überzeugt, dass die Völker russischer Sprache, Kultur und Identität in der Ostukraine „mit Zustimmung und Hilfe“ der Europäischen Union angegriffen werden. Gleichzeitig interpretiert er das russische „Stillhalten“ diesbezüglich nicht „wie im Fall der Franzosen oder Amerikaner als Realitätsverweigerung“, sondern als gute Diplomatie. „Sie brauchen Zeit. Ihre Selbstkontrolle, ihr Professionalismus nötigt Bewunderung ab.“ - Versuche, eine solche Analyse in den CIA-verpesteten Konzernmedien zu finden!


Kommentar: Russland lässt keine diplomatische Möglichkeit aus, um ein noch größeres Desaster von sich, der Ukraine und anderen Ländern abzuwehren.


“Europa” ist out, Deutschland in“

Was also Todd hier im Wesentlichen darstellt, ist „das Auftauchen eines neuen Gegenüberstehens zweier großer Systeme von Angesicht zu Angesicht: die Nation des amerikanischen Kontinents und das neue deutsche Imperium, ein politisch-ökonomisches Reich, was die Leute wie gewohnt weiterhin als „Europa“ bezeichnen.“ Und ja, er hat einen Vergleichsfall.

Das politikwissenschaftliche Konzept des belgischen Anthropologen Pierre van den Berghe anwendend, qualifiziert Todd das deutsche System als „ungleichgewichtige Dominanz“. Was immer an Gleichheit noch übrig ist, gehört nur dem Dominanten, den deutschen Bürgern. Also, willkommen in der „Herrenvolk-Demokratie“.


Kommentar: Die "Gleichheit" gehört wohl nur der deutschen oder auch nicht deutschen Elite. Die deutschen Bürger werden am Ende wohl in die Röhre schauen und, wenn es nach den Plänen der Eliten geht, die Zeche zahlen wie der Rest der europäischen Bürger, wenn auch vielleicht etwas später.


Todd untermauert seine Hypothese, indem er betont, die Dynamik der deutschen Wirtschaft sei auf der der früheren UdSSR-Satelliten gegründet. „Teile des Erfolgs unserer deutschen Nachbarn rührt daher, dass die Kommunisten sehr an Bildung interessiert waren. Sie ließen nicht nur veraltete Industriekomplexe hinter sich, sondern auch bemerkenswert gut gebildete Bevölkerungen.“

So bedeutete die „Anexierung“ der Bevölkerungen Polens, der Tschechischen Republik, Slowakei, Ungarns usw. für Deutschland eine Neuorganisierung seiner Industriebasis mit weniger kostenden Arbeitskräften. Da ist jedoch noch ein größeres „Aber“: Todd glaubt, Deutschland könne sogar eine aktive Population von 45 Millionen Ukrainern „annektieren“ „mit ihrem guten(Aus-)Bildungsniveau aus der sowjetischen Zeit“.

Aber nicht nur das ist allerdings extrem unwahrscheinlich: Moskau hat hier seine rote Linie markiert. Mehr noch, die „Ukraine“ ist ein „failed state“ auf der letzten Stufe ihres Zerfalls, nun eine niedere, faktische IMF-Kolonie, an der der „Westen“ nur aufgrund seines Agrarlandes für Plünderer wie Monsato und Kohorten Interesse zeigt.

“Er hat Deutschland nicht kommen sehen”

Spaßig wird es erst richtig, wenn Todd den Dreck untersucht, in dem nun die „klassischen amerikanischen Geopolitiker“ stecken. Er sprach hauptsächlich über den notorischen Dr. Zbig “Großes Schachbrett” Brzezinski: “Von Russland besessen hat er Deutschland nicht kommen sehen.“

Todd bemerkt korrekt, dass Dr. Zbig „nicht gesehen hat, dass die amerikanische Militärmacht, sich als NATO in alle Richtungen über die baltischen Staaten, nach Polen .... ausdehnend, faktisch ein deutsches Reich geschaffen hat, zuerst wirtschaftlich, aber derzeit bereits politisch.“ Und parallel zu dem, was ich nun schon seit Jahren untersuche, betont er, „die Ausdehnung der NATO nach Osten kann am Ende Version B von Brzezinskis Albtraum werden: Eine Wiedervereinigung Eurasiens unabhängig von den Vereinigten Staaten.

Das krönende Argument sollte wie der beste Armagnac genossen werden: “Treu seiner polnischen Herkunft beängstigte ihn ein Eurasien unter russischer Kontrolle. Er riskiert jedoch nun, in die Geschichte als ein weiterer absurder Pole einzugehen, der - voller Hass auf Russland - zur Größe Deutschlands beitrug.“

Gegenwärtig hat das politische Deutschland - aber nicht seine Industriellen - beschlossen, weiterhin US-/NATO-unterwürfig zu bleiben, da Kanzlerin Merkel die Umzingelung Russlands durchzusetzen scheint.

Reichstag
© Reuters/Fabrizio BenschA general view show the Reichstag building, the seat of the German lower house of parliament Bundestag
Wie Todd sich festlegte, hat Deutschland seine EU-Vorherrschaft penibel organisiert auf der Grundlage, dass dieser ungleiche Korb aus Nationen Berlin mit einer ausgewogenen Wirtschaft den Sieg über seinen industriellen Hauptkonkurrenten, die USA, verschaffen könnte. Nur, Deutschland fehlt die Energie - Öl und Gas. Lieferungen aus Afrika und dem Mittleren Osten sind naturgemäß instabil.

Und darum kommen wir nun zu einem anderen zirkulierenden Szenario, das Baumann „die nomadischen Eliten liquider Modernität“ nennt, nicht Think Tanks oder westliche Geheimdienste.

Gemäß diesem Szenario versucht Berlin, anstatt eine Zusammenarbeit der EU mit Russland anzustreben, Moskau zu untergraben, um völlige finanzielle Kontrolle über Russlands immense Ressourcen zu bekommen, zurück zum guten, alten Katastrophen-Kapitalismus der Jelzin-Ära, als alles zusammenbrach außer Russlands Rohstoffproduktion.

Gemäß dem “Großen Spiel” geht es hauptsächlich um die Kontrolle von Rohgas, Öl und den Rohstoffen Russlands und Zentralasiens. Werden sie durch Oligarchen-Fronten kontrolliert, die von ihren Meistern in London und New York überwacht werden, oder vom russischen Staat? Und sobald Russland unterworfen ist, wären es auch die zentralasiatischen „Stans“, insbesondere das Gas der Republik Turkmenistan, frei für Deutschlands Gebot.

Aber zur Zeit ist dies noch Schattenspiel. Merkel äußert Plattitüden über den Minsker Waffenstillstand, während jeder seriöse Spieler weiß, dass Kiew ihn täglich bricht. Berlin arbeitet hinter den Kulissen, um die sprichwörtlich „widerspenstigen“ Mitspieler - Italien, Griechenland, Ungarn - bei den Sanktionen gegen Russland an Bord zu behalten, während es sein Bestes gibt, die hysterischen Länder Polen und Litauen zu beherrschen.

Merkel ist sehr wohl gewahr, dass die USA die meisten ihrer Drohnenkriege von Deutschland aus betreiben, während der BND - der deutsche Geheimdienst - für die NSA über Frankreich, die EG-Kommission und sogar die deutsche Industrie spioniert.

So wird sie nie Washington direkt herausfordern - wie sie tatsächlich die meisten der deutschen Atlantiker fürchtet, während sie Putin und den Kreml als „in einer anderen Welt“ lebend hinstellt. Berlin und Moskau unterhalten weiterhin diplomatische Gespräche, aber die Stimmung neigt zu tauben Klängen.

Der neue Exzeptionalismus

Todd ist einer der wenigen, die schließlich den Alarmknopf drückten. Wie er selbst formuliert: „Die deutsche Kultur ist eine unausgewogene [ungleiche]: Sie erschwert eine Welt der Gleichen. Wenn sie fühlen, dass sie die stärksten sind, werden die Deutschen den Widerstand des Schwächeren zu gehorchen nicht verstehen, einen solchen Widerstand empfinden sie als unnatürlich, unlogisch.“

Wieder einmal sind wir im Reich des Exzeptionalismus [Einzigartigkeit - Auserwähltheit], aber nun kommt der historisch beirrende deutsche Hang zu politischer Irrationalität hinzu. Der neugemischte „Lebensraum“ könnte sich um ein immer weiter expandierendes Export-Kraftwerk [-Machtzentrum] drehen - aufbauend auf globalem Handel und unter Benutzung geschulter, aber wenig kostender Arbeitskraft. Während das Reich in mehr als einer Lebenstorheit vor siebzig Jahren zerfiel, würde der neue Deal einen Traum erfüllen: Wie ihn Todd charakterisiert, gibt es heutzutage zwei große „entwickelte Industrie-Welten“, Amerika und „dieses neue deutsche Imperium“.

Er sieht Russland als “zweitrangige Frage” und hat Chinas „long game“ nicht untersucht, insofern hat er nicht - wie ich selbst - die unzähligen Schritte zu einer eurasischen Integration berücksichtigt. Aber was Todds Aufmerksamkeit erregte, ist nichts weniger als ein Thriller für lange Zeiten, eine „völlig andere Zukunft für die nächsten zwanzig Jahre, anders als der Ost-West-Konflikt“: Deutschlands Aufstieg - und die USA und Deutschland im unvermeidbaren Widerstreit, alles noch einmal. Letzten Endes scheint sich die Geschichte als (tödliche) Farce selbst zu wiederholen.

Quelle: The German question (08.05.2015)
Übersetzung von Tashunka-Witkó
Anmerkung des Übersetzers:

Die meisten Saker-Leser werden sich - wie ich mich selbst auch - wohl zumindest über die Ableitung des deutschen Wesens als „Herrenmensch“ aus seiner Kultur heraus mokieren.Seht es bitte im Sinne des Gesamtverständnisses nach und - überdenkt es gerade auch auf dem Hintergrund der Diskussion zum Artikel von Egon Krenz, der die ungenügende Entnazifizierung und Auseinandersetzung mit der faschistischen Ideologie in der BRD und nun in ihrer Nachfolge im vereinigten Deutschland herausstellte.Ich kann aus weiter Ferne bestätigen, dass uns so ein Großteil der Welt noch immer sieht.Im Übrigen tragen gerade die Massenmedien und die aktuelle Politik Deutschlands innerhalb der EU wesentlich dazu bei.Die Deutschen zahlen also weiterhin den Preis ihrer nicht genügend aufgearbeiteten Geschichte, die nun wieder gefälscht wird und nochmals zum Verhängnis werden könnte.Dabei sollte nicht vergessen werden, dass auch diese in breitem Umfang unter den Teppich gefegte Geschichte Teil unserer jüngeren „Kultur“ geworden ist und dies mindestens im Ausland wieder skeptisch betrachtet wird.