Wie hoch ist das Diabetesrisiko für Kinder? Eine Studie aus Ulm kommt zum Schluss, dass bei Typ-2-Diabetes nicht nur Ernährung und Bewegung eine wichtige Rolle spielen - sondern auch familiäre Faktoren. Die Blutuntersuchung der jungen Probanden offenbarte Unerwartetes.
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Diabetes wird im Volksmund gerne über einen Kamm geschert: Menschen mit Diabetes sind zuckerkrank. Dabei spielt es eine Rolle, ob die Betroffenen Typ-1- oder Typ-2-Diabetiker sind. Beim Typ 1 handelt es sich um eine genetisch bedingte Autoimmunerkrankung, die auch Jugenddiabetes genannt wird, da die Symptome in frühen Jahren auftauchen. Typ 2 ist dagegen eine schleichende Erkrankung, die unter anderem durch Übergewicht ausgelöst werden kann, häufig erst in späten Jahren auftritt und deshalb auch Altersdiabetes heißt.


Kommentar: Diabetes Typ-1 ist nicht eine rein genetische Erkrankung, sondern multifaktoriell, wo die Ursachen noch nicht eindeutig geklärt sind.

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Wie wichtig diese Unterscheidung ist, zeigt sich jetzt bei Kindern und Jugendlichen: Nicht jeder junge Patient, so das Ergebnis einer vor kurzem veröffentlichten Studie der Universität Ulm, der als Typ-2-Diabetiker behandelt wird, hat auch wirklich Altersdiabetes. Bei mehreren der untersuchten Patienten entdeckte das Team um Wendy Awa und Reinhard Holl vom Institut für Epidemiologie und medizinischen Biometrie Mischformen der Zuckerkrankheit.

Mischformen

Manche der Kinder und Jugendlichen waren wegen ihres starken Übergewichts als Typ-2-Diabetiker eingeschätzt worden - ihre Antikörperprofile sahen aber aus wie die von Typ-1-Diabetikern. Demnach tendierten insgesamt zehn Prozent der jungen Probanden zu Diabetes Typ 1 beziehungsweise hatten eine Typ-1-Typ-2-Mischform, oder zeigten einen unbekannten Diabetestyp.

Das kann zu Problemen führen: Als Typ-2-Zuckerkranker wird man oft ohne Medikamente mit Bewegungs- und Ernährungsprogrammen therapiert. Beim Typ-1-Diabetes stellt der Körper kein Insulin mehr her, und man muss sich das Hormon ein Leben lang spritzen.

In ihrer Studie, die im Fachjournal "Pedriatics Diabetes" erschienen ist, stießen die Ulmer Mediziner zudem auf eine weitere Auffälligkeit: Bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist der Diabetes Typ 2 häufiger als in der Gesamtbevölkerung. Ein Phänomen, das auch aus den USA schon bekannt ist. Während es dort vor allem die indianischen Ureinwohner, Afro- oder Lateinamerikaner und Asiaten sind, die zu viel Gewicht haben und deshalb eine Resistenz gegen das blutzuckersenkende Hormon Insulin entwickeln, werden in Deutschland offenbar vor allem Kinder mit türkischen, osteuropäischen und russischen Wurzeln zuckerkrank.

Für die Studie hatten die Ulmer Forscher die Daten von insgesamt 107 jungen Typ-2-Diabetikern aus Deutschland und Österreich analysiert. Ein Großteil von ihnen war stark übergewichtig oder sogar fettleibig (adipös). "Dafür ist nicht nur ein falsches Ernährungs- und Bewegungsverhalten verantwortlich", sagt die Humanbiologin Wendy Awa, die inzwischen an der Universität Bremen tätig ist. Vielmehr wiesen die Ergebnisse auch auf eine familiäre Veranlagung hin. "Wobei uns insbesondere eine gewisse Vorprägung durch die Mutter auffiel."

Auch die Mütter sind auffällig oft übergewichtig

Deutlich mehr Mütter als Väter der adipösen Kinder seien ebenfalls stark übergewichtig gewesen, bei über 80 Prozent der Eltern oder Großeltern habe man außerdem Diabetes festgestellt. Fettsucht gilt als eine der Hauptursachen für den Altersdiabetes schon bei Kindern.

Besonders betroffen sind nach Awas Erkenntnissen Jungen. Zwar litten mehr Mädchen an der Zuckerkrankheit. Aber bei den männlichen Patienten zeigten sich bereits öfter die typischen Begleiterscheinungen des Diabetes: Bluthochdruck und veränderte Blutfettwerte, die mit Medikamenten behandelt werden mussten. Typ-2-Diabetiker entwickeln häufig das metabolische Syndrom, ein wichtiger Risikofaktor beim Entstehen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

"Obwohl die Krankheit auch hierzulande in den letzten Jahren immer häufiger diagnostiziert wird, sind wir von einer Epidemie, wie sie in den Medien gerne ausgemalt wird, weit entfernt", sagt der Ulmer Kinderdiabetologe Reinhard Holl.

Wie sich die Ulmer Studienergebnisse erklären lassen, darüber können Forscher bisher nur spekulieren. "Vermutlich hängt die größere Anfälligkeit des Typ-2-Diabetes bei sozial benachteiligten Menschen mit der Lebensweise zusammen", sagt Andrea Icks, Professorin im Funktionsbereich Public Health am Universitätsklinikum Düsseldorf. "Oder mit einer Kombination aus Lebensweise und genetischer Veranlagung."

Dabei spielten nicht nur Bewegung und Ernährung eine Rolle, sondern auch belastende Lebensfaktoren wie Stress und besondere Umweltbedingungen. So gebe es vermutlich einen Zusammenhang zwischen Schadstoffen und dem Diabetesrisiko. Insgesamt aber sei die Datenlage bei Kindern und Jugendlichen schwächer als bei Erwachsenen, so Icks.

Kulturelle Muster spielen eine Rolle

"Kinder aus Migrantenfamilien und auch sozial Schwächere tun sich schwerer mit den Präventions- und Therapieangeboten, die sehr auf die deutsche Mittelschicht zugeschnitten sind", sagt auch Reinhard Holl. Das sei zum einen ein sprachliches Problem, zum anderen hätten deutsche Ernährungsberaterinnen wenig Ahnung beispielsweise von türkischer Küche. Außerdem, so der Diabetologe, sei in Migrantenfamilien zum Teil die Vorstellung noch ausgeprägter, dass man Kinder verhätscheln müsse und nur ein gut gefütterter Wonneproppen auch ein gesundes Kind sei.

Hinzu komme, dass türkische Mädchen mit 13 oder 14 Jahren oft aus dem Sportunterricht aus kulturell-religiösen Gründen abgemeldet würden, so Holl. Dadurch fehle ihnen die Bewegung, die so wichtig sei im Kampf gegen den Typ-2-Diabetes. "Auch beim Typ-1-Diabetes braucht es Disziplin, man muss aktiv damit leben und seine Krankheit in den Alltag einbauen. Da geht es um Genauigkeit. Und das ist auch so eine deutsche Sache", sagt Holl.