Mindestens 80 Menschen sind bei einem der schlimmsten Zugunglücke in der Geschichte Spaniens gestorben, gegen einen der beiden Lokführer wird nun ermittelt. Eine Überwachungskamera hielt die Katastrophe fest.
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© AFPIn dem Zug waren zwei Lokführer unterwegs. Beide überlebten nahezu unverletzt. Gegen einen von ihnen wird nun ermittelt.
Santiago de Compostela - Ein Gleisabschnitt nur wenige Kilometer von der Pilgerstätte Santiago de Compostela entfernt: Ein weißer Zug rast auf den Schienen, kommt viel zu schnell immer näher. In der Linkskurve geschieht das Unglück. Die ersten Waggons springen aus der Bahn, krachen mit voller Wucht gegen die Betonmauer, schlittern weiter. Diese Bilder aus einer Überwachungskamera zeigen das verheerende Zugunglück in Spanien, bei dem mindestens 80 Menschen getötet wurden.

Inzwischen wurde die Suche nach weiteren Opfern eingestellt. Die Behörden sprechen mittlerweile von rund 180 Verletzten. Laut der Zeitung La Voz de Santiago sind knapp 40 Menschen in kritischem Zustand, darunter vier Kinder. Nach Angaben der Regierung Galiciens saßen im Unglückszug mit rund 260 Fahrgästen mehr Menschen als bislang angenommen. Zunächst war von etwa 220 Passagieren die Rede gewesen.

Wie nun bekannt wurde, wird gegen einen der beiden Lokführer ermittelt. Laut El Mundo handelt es sich um einen 52 Jahre alten Mann. Er wird dem Bericht zufolge in einem Krankenhaus von Polizisten bewacht, ist aber nicht verhaftet. Er soll seit 30 Jahren für die Eisenbahngesellschaft Renfe arbeiten und seit einem Jahr die Schnellstrecke zwischen der Hauptstadt Madrid und der Stadt El Ferrol an der Atlantikküste fahren. Das berichtet die Zeitung unter Berufung auf den Chef des Unternehmens, Julio Gómez-Pomar Rodríguez.

Der Zug vom Typ Alvia soll mit Tempo 190 in die enge A-Grandeira-Kurve gerast sein - eine Stelle, an der maximal 80 Kilometer pro Stunde erlaubt sind. Renfe geht offiziell von einem Unfall aus. Ein technisches Problem schloss Gómez-Pomar Rodríguez aus, der Unglückszug sei noch am selben Morgen einer Inspektion unterzogen worden. Von der sogenannten Blackbox erhofft sich die Eisenbahngesellschaft nun wichtige Hinweise auf die Ursache für die Katastrophe.

Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy ordnete eine dreitägige Staatstrauer an - Santiago de Compostela ist die Heimatstadt des Politikers. Am Unglücksort sprach Rajoy mit Verletzten und Angehörigen von Opfern: "Wir haben ein schreckliches, dramatisches Unglück erlebt, das wir, wie ich fürchte, noch lange in Erinnerung haben werden."

"Wir hörten ein gewaltiges Krachen"

Auch am Tag nach dem Unfall gleicht die Stelle einem Trümmerfeld. Auf dem Schotterbett der Gleise liegen Teile der Waggons, herausgerissene Stühle, Gepäck - und Dutzende Decken, mit denen nach dem Unglück die Toten zugedeckt worden waren.

Kurz nach der Katastrophe waren zuerst Anwohner zum Unglücksort geeilt. "Wir hörten ein gewaltiges Krachen und gingen sofort runter", sagte Ricardo Martínez. Er habe dann geholfen, Verletzte zu retten und Tote zu bergen. "Ich bin in die Waggons reingekrochen, aber was ich da gesehen habe, möchte ich nicht erzählen." Viele der herbeigeeilten Menschen schlugen mit Steinen die Scheiben der Waggons ein, um den Verletzten helfen zu können. Polizei und Zivilschutz organisierten einen Großeinsatz, aus Madrid wurden Spezialisten an die Unfallstelle beordert.

Hunderte Menschen gingen zum Blutspenden in Krankenhäuser. Ärzte und Krankenschwestern machten Überstunden oder meldeten sich aus ihrer Freizeit zum Dienst. Die Feuerwehr, die wie andere Teile des Öffentlichen Dienstes unter einem rigidem Sparkurs leidet, unterbrach eine Streik, um zu helfen.

Unter den Opfern waren zahlreiche Pilger, die an den Feierlichkeiten zu Ehren des Apostels Jakob teilnehmen wollten - das Fest wurde nach dem Unglück abgesagt. Behördenangaben zufolge sind auch Ausländer unter den Verletzten, bisher ist von Briten und US-Bürgern die Rede. Ob auch Deutsche mit dem Zug auf Reisen waren, ist noch nicht bekannt. Wolfgang Schneller, Koordinator des Projekts "Deutschsprachige Pilgerseelsorge in Santiago", sagte, es sei zu befürchten, dass auch Deutsche betroffen seien. Die deutsche Botschaft in Madrid stehe mit den spanischen Behörden in Kontakt und bemühe sich um Aufklärung, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Berlin.

Die Alvia-Schnellzüge sind eine Besonderheit der spanischen Eisenbahn: Sie können sowohl auf dem modernen Netz der Hochgeschwindigkeitsstrecken mit europäischer Normalspur als auch auf den herkömmlichen Schienen mit spanischer Spurbreite fahren. An den Lokomotiven und den Waggons können die Achsenweiten ohne großen Aufwand umgestellt werden, die Züge können so fast ohne Zeitverlust von einem Netz auf das andere wechseln. Sie erreichen Geschwindigkeiten von bis zu 250 Kilometern pro Stunde.

Die Stadt Santiago liegt in der nordwestspanischen Region Galicien und gehört zum Weltkulturerbe. Für zahlreiche Pilger auf dem Jakobsweg ist sie das Ziel. Normalerweise drängen sich beim Jakobsfest am 25. Juli Menschenmassen in den engen Gassen der Altstadt rund um die imposante Kathedrale - jetzt wurde für ganz Galicien eine Trauerwoche ausgerufen.



aar/gam/dpa/Reuters