Wissenschaftler haben im Wostoksee, der sich unter einer vier Kilometer dicken Eisschicht in der Antarktis befindet, mehr als 3500 unterschiedliche Gensequenzen entdeckt. Seit mehr als 15 Millionen Jahren war dieses Wasserreservoir, das 25 Mal so groß wie der Bodensee ist, unberührt geblieben - nun enthüllt sich hier ein komplexes Ökosystem, das die Erwartungen der Wissenschaftler bei weitem übertrifft.
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»Die Grenzen dessen, was als bewohnbar gilt und was nicht, haben sich verschoben«, sagte Scott Rogers, Biologieprofessor an der Staatsuniversität Bowling Green im US-Bundesstaat Ohio, der die genetische Untersuchung einer Halbliter-Probe des Wassers leitete, die nach den im vergangenen Jahr nach langer Zeit erfolgreich abgeschlossenen Bohrungen russischer Wissenschaftler entnommen worden war. »Wir haben komplexere Strukturen gefunden, als alle erwartet und gedacht hatten«, erklärte Rogers weiter. »Die Ergebnisse belegen die Hartnäckigkeit des Lebens, und dass Organismen an Orten überleben können, wo wir vor einigen Jahrzehnten noch überzeugt waren, dass dort kein Leben möglich sei.«

Es gibt nur wenige Plätze auf der Erde, die noch lebensfeindlicher als der Wostoksee sind, bei dem es sich um den größten der bisher bekannten 150 subglazialen (d.h. sich unter einem Gletscher befindenden) Seen in der Antarktis handelt. Rogers war zunächst davon ausgegangen, dass das Wasser aus diesem See steril sein müsse.

Das Wasser befindet sich vier Kilometer unter dem Eis, welches das Sonnenlicht vollständig abschirmt und darüber hinaus mit ungeheurem Druck (30-40 Megapascal) auf dem Wasser lastet. Dieser hohe Druck ist auch der Grund dafür, dass der See trotz seiner Durchschnittstemperatur von -3 °C nicht durchgefroren ist. Zudem befindet sich der See in der kältesten Region der Welt: Die bisher niedrigste Temperatur weltweit (- 89,2° C) wurde in der Messstation oberhalb des Sees gemessen.

Nachdem man zunächst mit Bleiche die äußeren Eisschichten des Bohrkerns (das Wasser war in Eisform aus dem See entnommen worden) entfernt hatte, da sie möglicherweise auf dem Weg durch das Bohrloch nach oben verunreinigt worden sein könnten, suchten die Wissenschaftler gezielt nach RNS- und DNS-Spuren. Dabei wurden Tausende mikroskopisch kleiner Lebensformen, vor allem Bakterien, entdeckt.

Viele hatten erwartet, wenn überhaupt Lebensformen in dem tief verborgenen »Gefrierschrank« gefunden würden, hätten sich diese auf einzigartige Weise an die extrem harten Lebensbedingungen angepasst und möglicherweise aufgrund ihrer von der Evolution des Lebens in anderen Teilen der Welt in den vergangenen Millionen Jahren isolierten Lage eine ganz andere Entwicklung als der Rest genommen.

Aber wie Rogers ausführt, der seine Ergebnisse in dem Magazin PLOS One erläuterte, sei dies nicht der Fall gewesen. »Mit vielen der Arten, deren Nukleotid-Abfolge der DNS wir identifizieren konnten, hätten wir auch in einem normalen See gerechnet. Bei den meisten Bakterien handelt es sich um Süßwasserbakterien, und viele Arten leben normalerweise in Meeren oder Seeablagerungen.«

Rogers und seine Mitarbeiter sind der Ansicht, die relative Normalität der entdeckten Organismen sei möglicherweise darauf zurückzuführen, dass sie dort als Überbleibsel aus der Zeit vor etwa 35 Millionen Jahren zurückblieben, in der die Antarktis ein gemäßigtes Klima aufwies, und eben nicht das Ergebnis eines eigenständigen evolutionären Prozesses im See sind. Einige der im Wostoksee gefundenen Organismen treten in der Regel in einer Meeresumgebung auf (etwa in den Verdauungssystemen von Fischen und Krustentieren). Dies deutet darauf hin, dass diese Wasserlagerstätte einmal mit einem umfangreicheren Salzwasservorkommen in Verbindung stand. Aber Rogers vermutet, dass »zwei massive Temperaturstürze« das Seewasser räumlich isolierten und auch den jetzigen Zustand konservierten. Allerdings schließt die Studie die Möglichkeit überraschender Entdeckungen nicht aus.

»Dieses Projekt stellt eine immense Herausforderung dar, und je mehr man sich mit dem Thema beschäftigt, desto mehr will man wissen. Jeden Tag entdeckt man etwas Neues, und das wirft dann weitere Fragen auf, die beantwortet werden müssen«, erklärte Juri Schtarkman, der viele der Analysen durchführte und glaubt, es könne ein ganzes Forscherleben in Anspruch nehmen, die Geheimnisse des Sees zu lüften.