Japanischer Junge wartet auf Trinkwasser
© AFPEin Junge wartet in der Präfektur Miyagi auf Trinkwasser. Das japanische Gesundheitsministerium rief Bewohner des Dorfes Iitate dringend dazu auf, kein Leitungswasser zu sich zu nehmen. Kurz zuvor hatten Experten dreifach erhöhte Werte radioaktiven Jods nachgewiesen, berichtete die Nachrichtenagentur Kyodo.
Es ist eine schleichende, unheimliche Gefahr: Nahe des Katastrophenreaktors Fukushima und in Japans Hauptstadt Tokio sind radioaktive Stoffe im Trinkwasser nachgewiesen worden. Auch das Problem verstrahlter Lebensmittel ist gravierender als anfangs angegeben.

Tokio - Das japanische Gesundheitsministerium rief am Montag die etwa 6000 Bewohner des Dorfes Iitate dringend dazu auf, kein Leitungswasser zu sich zu nehmen. Kurz zuvor hatten Experten dreifach erhöhte Werte radioaktiven Jods nachgewiesen, berichtete die Nachrichtenagentur Kyodo. Iitate liegt etwa 30 Kilometer nordöstlich des Atomkraftwerkes Fukushima.

Ein Sprecher des Ministeriums betonte, die Verstrahlung sei zu gering, um unmittelbare Schäden zu verursachen. "Trotzdem raten wir als Vorsichtsmaßnahme den Dorfbewohnern dazu, das Wasser nicht zu trinken." Medienberichten zufolge sollen die Einwohner nun mit Wasserflaschen versorgt werden.

Die Weltgesundheitsorganisation nannte die radioaktive Verseuchung japanischer Lebensmittel ernst. Es handele sich nicht um ein örtlich einzugrenzendes Problem. Im Gegensatz zu verstrahltem Jod, das nach etwa acht Tagen zerfällt, können sich radioaktive Isotope wie Cäsium-137 und Uran-238 über Jahrzehnte in der Natur halten.

In den vergangenen Tagen hatten Fälle von kontaminierter Milch und radioaktivem Gemüse für Unruhe in der Bevölkerung gesorgt, die nach dem verheerenden Erdbeben vor zehn Tagen ohnehin mit Versorgungsengpässen zu kämpfen hat.

Am Montag verbot die Regierung den Verkauf von Milch und Spinat aus der Präfektur Fukushima. Mit weiteren Restriktionen muss gerechnet werden: "Die Kontaminierung von Lebensmitteln und Wasser ist ein Problem", sagte Gerhard Proehl von der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien.

Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO teilte mit, das Problem belasteter Nahrung sei schwerwiegender als bisher angenommen. Längst seien nicht mehr nur Nahrungsmittel aus einer Zone von 20, 30 Kilometern rund um den Reaktor betroffen, sagte Peter Cordingley von der WHO in Manila laut Reuters. "Das ist offenkundig eine ernste Lage."

Der Strahlenbiologe Edmund Lengfelder äußerte die Befürchtung, dass viele der in Fukushima seit Tagen arbeitenden Techniker einen akuten Strahlentod sterben könnten. "Zuerst wird es den Menschen übel und schwindlig", sagte er der "Frankfurter Rundschau" vom Montag. Dann würden "lebenswichtige Funktionen" zusammenbrechen. Lengfelder warnte zudem vor einer Verstrahlung im Pazifik.

Erneutes Erdbeben in der Region Fukushima

Während die Menschen ums Überleben kämpfen, hat sich die Erde in der Katastrophenregion noch immer nicht beruhigt. Am frühen Morgen erschütterte ein weiteres Beben die Präfektur Fukushima. Wie die Nachrichtenagentur Kyodo berichtet, hatte es eine Stärke von 4,7. Angaben zu Verletzten oder Schäden gab es nicht.

Den Berichten zufolge war das Beben auch in unmittelbarer Nähe des havarierten Atomkraftwerks Fukushima I zu spüren. Die Anlage war vor zehn Tagen von dem stärksten jemals in Japan gemessenen Erdbeben mit der Stärke 9 und einem darauffolgenden Tsunami stark beschädigt worden. Seither wird versucht, eine Kernschmelze in dem AKW zu verhindern.

Druckanstieg am Reaktorblock 3

Am Wochenende war es gelungen, die Temperaturen in den mit Wasserwerfern gekühlten Reaktorblöcken zumindest zu stabilisieren. Inzwischen wurden nach Angaben der Betreiber zudem alle sechs Reaktoren wieder an Starkstromleitungen angeschlossen.

Doch es gab auch neue schlechte Nachrichten: Der Druck in Block 3 stieg wieder derart an, dass Techniker einen Druckablass in Erwägung zogen. Dabei hatte es in den ersten Tagen der Atomkrise Explosionen von radioaktivem Gas gegeben. "Selbst wenn bestimmte Dinge glatt gehen, wird es auch Rückschläge geben", sagte Regierungssprecher Yukio Edano am Montag. "Im Augenblick sind wir nicht so optimistisch, dass es einen Durchbruch gibt."

Japanische Soldaten begannen am Montagmorgen wieder damit, Reaktorblock 4 zu kühlen. In den Reaktorblöcken 5 und 6, die am wenigsten beschädigt wurden, läuft seit dem Anschluss ans Stromnetz die Kühlung wieder; sie gelten inzwischen als sicher.

AKW-Betreiber soll bei Inspektion von Fukushima geschlampt haben

Ein Bericht der japanischen Atomsicherheitsbehörde, der neun Tage vor der Katastrophe veröffentlicht wurde, belegt laut japanischen Medienberichten, dass der Betreiber Tepco 33 Teile der Anlage in Fukushima nicht ordnungsgemäß inspiziert hat. Darunter hätten sich Notstromgeneratoren, Pumpen und andere Teile des Kühlsystems befunden, die dann vom Tsunami beschädigt wurden und deren Ausfall zu den massiven Problemen in dem Kraftwerk führten.

Schon vor der jüngsten Katastrophe hatte es immer wieder Kritik an Tepco wegen nachlässiger Wartung von Atomkraftwerken gegeben.

Entsorgung von Fukushima könnte zehn Jahre dauern

Die Entsorgung der Reaktoren des havarierten Atomkraftwerks Fukushima I könnte laut Einschätzung eines Experten bis zu zehn Jahre dauern. Das berichtete die Zeitung "Asahi Shimbun" am Montag in ihrem Facebook-Profil und berief sich auf einen Informanten des AKW-Betreibers Tepco. Wegen radioaktiver Strahlung sei es sehr wahrscheinlich, dass die beschädigten Brennelemente in den Reaktordruckbehältern der Blöcke 1, 2 und 3 nicht abmontiert werden könnten, sagte der Informant der Zeitung. Die Blöcke 5 und 6 hätten dagegen keinen großen Schaden davongetragen. Theoretisch könnten sie deswegen wieder in Betrieb genommen werden.

"Mit Blick auf die Gefühle der Anwohner wäre es allerdings schwierig, den Betrieb wieder aufzunehmen. Die Entsorgung aller sechs Reaktoren ist daher unvermeidlich", wird der Tepco-Mitarbeiter zitiert.

Am Sonntag hatte Regierungssprecher Yukio Edano demnach die Wiederinbetriebnahme des Atomkraftwerks als nahezu unmöglich bezeichnet. Laut der Zeitung soll zudem der Bürgermeister der Stadt Koriyama in der Präfektur Fukushima, Masao Hara, Wirtschaftsminister Banri Kaieda darum gebeten haben, Fukushima I nicht mehr in Betrieb gehen zu lassen.

Regen behindert Rettungsarbeiten

Anhaltender starker Regen erschwerte am Montag die Rettungsarbeiten im gesamten Erdbeben- und Tsunamigebiet und schürte Ängste vor radioaktivem Niederschlag. Regierungschef Naoto Kan sagte wegen des Wetters einen geplanten Besuch in der Katastrophenregion im Nordosten Japans ab.

"Wir können bei diesem Regen nicht mit Helikoptern fliegen", sagte ein Vertreter der Präfektur Miyagi, die am stärksten von dem Erdbeben und dem anschließenden Tsunami getroffen worden war. Die für Montag geplanten Bergungsarbeiten würden verschoben. Naoto Kan wollte ursprünglich per Hubschrauber zunächst in die Stadt Ishinomaki in Miyagi reisen. Danach wollte er nahe der Anlage Fukushima I Einsatzkräfte treffen, die seit Tagen versuchen, eine nukleare Katastrophe zu verhindern.

Polizei rechnet mit mindestens 18.000 Toten

Die japanische Polizei rechnet inzwischen mit mehr als 18.000 Toten durch die Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe vom 11. März. Ein Sprecher der Polizei der Präfektur Miyagi sagte, alleine in seinem Bereich rechne man mit mehr als 15.000 Toten. Sprecher anderer verwüsteter Regionen wollten keine Schätzung der letztendlichen Zahl der Toten abgeben, bestätigten aber, dass bei ihnen bisher mehr als 3300 Leichen geborgen worden seien.

Weltbank schätzt Schäden auf 166 Milliarden Euro

Die Weltbank schätzt die Schäden in Japan durch das schwere Erdbeben und den Tsunami auf 122 bis 235 Milliarden US-Dollar - das sind bis zu 166 Milliarden Euro. Die Folgen des Atomunfalls seien für Japan und die betroffene Region dagegen noch nicht abschätzbar, schreibt die Entwicklungsorganisation in einer Wirtschaftsprognose für die Ostasien- und Pazifikregion, die sie am Montag in Singapur veröffentlichte.

Von Erdbeben und Tsunami allein könne sich die japanische Wirtschaft nach einem kurzen Einbruch durch die Wiederaufbauanstrengungen schnell erholen, schreibt die Weltbank. Das lege die Erfahrung nach dem Erdbeben in Kobe von 1995 nahe. Damals betrugen die Schäden 100 Milliarden Dollar.

Die Entwicklungsländer Asiens blieben auf solidem Wachstumskurs, erwartet die Weltbank. Ihr Sozialprodukt dürfte 2011 und 2012 mit 8,2 und 7,9 Prozent wachsen - nach 9,6 Prozent im vergangenen Jahr. Zu den Entwicklungsländern zählt die Weltbank neben Staaten wie der Mongolei und Laos auch Thailand und China.