Extrovertierte Menschen punkten im Berufsleben leichter: Ihnen liegt die Selbstdarstellung im Blut. Doch in sich gekehrte Persönlichkeiten haben viel Potenzial - auch für Führungsaufgaben.

Extrovertierte sind bessere Arbeitnehmer und besonders führungsstark - so die gängige Meinung. Wie viele Eltern machen sich nicht schon um ihre Jüngsten Sorgen, weil sie in Kindergarten und Schule eher zum Rückzug und Alleinspielen neigen als zum fröhlichen Miteinander: Auch in sich gekehrte Erwachsene kennen den gesellschaftlichen Druck, mehr aus sich zu machen. Sie sollen stärker aus sich herausgehen, kommunizieren, um in jeder Hinsicht glücklicher und gesünder zu werden.

Introversion gilt in der Bevölkerung als schwache Eigenschaft. Psychologen sehen sie wertneutraler als eines der unter dem Schlagwort "Big Five" bezeichneten Persönlichkeitsmerkmale: Extra-/Introversion, Offenheit für neue Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität. Zusammenspiel und Ausprägung dieser im Deutschen auch als FFM (Fünf-Faktoren-Modell) bezeichneten Kriterien machen einen Menschen zu dem, der er ist. In allen Kulturen lassen sich durch die "Big Five" die meisten weiteren Persönlichkeitsmerkmale beschreiben. Dieses Standardmodell entwickelten unabhängig voneinander bereits in den 70er-Jahren die Wissenschaftler Paul Costa und Robert McCrae vom National Institute of Health sowie Warren Norman von der University of Michigan und Lewis Goldberg von der University of Oregon.

Introversion ist alles andere als ein krankhafter Zustand. In jüngster Zeit brechen immer mehr Wissenschaftler und Buchautoren eine Lanze für die Introvertierten - für die leisen Menschen, wie sie die SprachwissenschaftlerinSylvia Löhken aus Bonn nennt. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit introvertierten Menschen, von denen es rund 30 bis 50 Prozent in der Gesellschaft geben soll. "Introvertiert ist etwas ganz anderes als schüchtern", sagt Löhken, Autorin des Buches "Leise Menschen - Starke Wirkung". Ein schüchterner Mensch habe in sozialen Situationen Angst und könne dabei durchaus extrovertiert sein.

Introvertierte hätten Finanzkrise anders gemeistert

Introvertierte hingegen richten ihre Aufmerksamkeit am liebsten nach innen. Sie sind tiefsinnig, handeln durchdacht und sind häufig auch besonders kreativ, verglichen mit den eher impulsiv agierenden Extrovertierten, die zu versierter Selbstdarstellung tendieren und damit im Berufsleben leichter punkten. Dabei seien es oft gerade die stilleren Arbeitnehmer, die über viel Wissen verfügen und nach Ansicht von Fachleuten besonders besonnene Führungskräfte sein könnten. Die Finanzkrise von 2008 etwa hätte nach Ansicht der amerikanischen Juristin, Harvard-Absolventin und Autorin Susann Cain abgemildert werden können, wenn an den Schaltstellen der Macht stillere Männer und Frauen agiert hätten. Gerade in diesem Sektor wünscht sie sich mehr Introvertierte.

Camelia Kuhnen von der Kellogg School of Management in Chicago hat die Gehirne von introvertierten Menschen untersucht. Die Forscherin bestätigt, dass die Dopamin-gesteuerten Motivationssysteme des Gehirns bei Introvertierten langsamer in Gang kommen. Somit würden meist ausgewogenere Entscheidungen getroffen. Ebenso fand Kuhnen heraus, dass die Variante eines Gens, das für die Dopaminregulation zuständig ist, in Verbindung mit einer speziellen Version von Extraversion mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Indikator für finanzielle Risikobereitschaft ist. Menschen mit einer anderen Genvariante, die mit Introversion und hoher Sensibilität verknüpft ist, gingen 28 Prozent weniger finanzielle Risiken ein als andere.

Introvertierte Kinder in Therapie

Vor allem in den USA hält sich das Vorurteil, dass Extrovertierte erfolgreicher sind. "Dort schicken Eltern ihren introvertierten Nachwuchs immer öfter sogar in Therapie, um sie dem Ideal der Extrovertierten anzunähern", sagt Löhken. Wer ruhig, in sich gekehrt und eher reserviert ist, wird leichter verkannt. Tröstlich ist nur, dass das den Introvertierten wenig ausmacht, weil sie weniger vom äußeren Urteil abhängig sind.

Susann Cain beschreibt in ihrem Buch Still die ihrer Meinung nach überall mehr denn je benötigten Qualitäten der Introvertierten. Das Buch wurde zum New York Times -Bestseller: "Ohne Introvertierte sähe die Welt ärmer aus", ist Cain überzeugt, die sich selbst ebenfalls zur leisen Spezies zählt. "Weder wäre etwa die Gravitations- oder die Relativitätstheorie entwickelt noch Chopins ,Nocturnes' komponiert oder Prousts 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' geschrieben worden, wenn es nicht auch jenen nach innen gewendeten Typus gäbe." Auch Bill Gates sei eigentlich ein stiller Mensch, ebenso Google-Gründer Larry Page, Joanne K. Rowling oder Eleanor Roosevelt.

Warum also den Introvertierten nicht zu mehr Ansehen und besseren Arbeitsbedingungen, die zu ihnen passen, verhelfen? Cain fordert flexiblere Arbeitsplätze, die Platz für die Stillen ebenso wie für die Lauten bieten. Großraumbüros mögen Introvertierte in der Regel ebenso wenig wie zu viel Teamwork oder spontan eingefordertes Brainstorming. Sie laufen dagegen zu Höchstform auf, wenn sie sich in eine Sache ausreichend vertiefen können und genügend Raum und Zeit haben, optimale Lösungen zu entwickeln.

Zwei Forscher - zwei Ergebnisse

An Studien wie die des Psychologie-Professors William Fleeson von der Wake Forest University North Carolina, dem zufolge es Introvertierte zufriedener macht, sich extrovertierter zu verhalten, glaubt Cain nicht. Fleeson ließ 85 Menschen eine Woche lang notieren, wie extrovertiert sie sich gerade verhielten und wie zufrieden sie dabei waren. Er kam zu dem Schluss, dass introvertierte Menschen, die sich extrovertiert verhielten, mehr Glück empfänden.

John Zelenski, Psychologe an der Carleton University im kanadischen Ottawa, kam in einer Studie mit 600 Studenten zu einem anderen Ergebnis: Introvertierte Menschen neigten dazu, falsch einzuschätzen, wie sie sich fühlen, wenn sie sich extrovertiert verhalten. Umgekehrt sei es für Extrovertierte anstrengend, sich gegen ihre Natur introvertiert zu verhalten. Manche Forscher sehen sogar ein psychisches und physisches Gesundheitsrisiko darin, eine "falsche" Mentalität vorzutäuschen: Brian Little, Psychologieprofessor aus Cambridge, kam nach Studien zu der Erkenntnis, dass es sich nachteilig auf Nerven- und Immunsystem auswirkt, sich entgegen seiner Natur zu verhalten.

Introvertiert, extrovertiert oder Mischtyp?

Der Entwicklungspsychologe Jerry Kagan von der Harvard University untersucht seit 1989 in einer Langzeitstudie die emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern. Als Ursache für Introversion fand er einen besonders leicht erregbaren Mandelkern. Diese Hirnregion ist für die Wahrnehmung von Gefühlen zuständig. Bei Introvertierten reagiert sie intensiver auf sämtliche Außenreize wie etwa Lärm oder Kälte, und das bereits im Säuglingsalter. Wenn er ein Baby 45 Minuten lang testet, könne er durch seine Erfahrung voraussagen, welche Mentalität im späteren Leben bei ihm vermutlich vorherrsche, ist Kagan überzeugt. "Introvertierte Menschen brauchen mehr und rascher Rückzugsmöglichkeiten, um ihre Batterien wieder aufzuladen."

Vielen Experten sind derartige Thesen allerdings viel zu schwarz-weiß. Schon der berühmte Psychoanalytiker C. G. Jung erklärte, dass es die reinen Formen von Introversion und Extraversion eigentlich gar nicht gibt. In der Realität kommen häufig Mischtypen zwischen diesen beiden Extremen vor, hebt auch die Bonner Sprachforscherin Löhken hervor: "Bei der Einteilung spielen drei Ebenen eine Rolle - die genetische Anlage, die kulturelle Umgebung und nicht zuletzt, wie ich mit beiden Voraussetzungen alltäglich umgehe." Und so mancher ursprünglich in sich gekehrte Charakter habe sich im Arbeitsleben ein dickeres Fell zugelegt. Den Introvertierten rät Löhken, bewusst auf ihre Stärken zu setzen, eigene Hürden zu kennen und sich nicht zu verbiegen: "Gerade die sozialen Netzwerke im Web 2.0 sind für Introvertierte eine gute Möglichkeit, Leute zu treffen, ohne allen persönlich begegnen zu müssen. Hier können leise Menschen gut aus der Deckung kommen, um sich zu präsentieren."

In der Musik wusste man immer schon, dass eine gelungene Komposition nicht nur aus Tönen besteht. So sagte Wolfgang Amadeus Mozart: "Die Stille zwischen den Noten ist genauso bedeutsam wie die Noten selbst."