Die sozialen Proteste in Bosnien greifen auf 23 Städte über. Im Epizentrum der Proteste, Tuzla, ist es zu Straßenschlachten gekommen.
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© AFPDemonstranten verbrennen vor einem Regierungsgebäude in Tuzla Reifen.
Sarajevo - Proteste und Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei erschüttern Bosnien Herzegowina: Nachdem am Mittwoch eine Kundgebung von Arbeitslosen in der nördlichen Industriestadt Tuzla gewaltsam eskaliert war, griffen die Proteste am Donnerstag zunächst auf vier und am Freitag auf mindestens 23 weitere Städte über. Tuzla, das Epizentrum des Aufstands, befindet sich nach Augenzeugenberichten im Ausnahmezustand. Demonstranten stürmten das Gebäude der Kantonsregierung. In der Hauptstadt Sarajevo setzte die Polizei gegen mehrere Tausend Protestierer Plastikmunition und Blendgranaten ein. In Wolken von Tränengas und brennenden Autoreifen kam es in beiden Städten immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen. Bereits am Donnerstag wurden in Tuzla nach Angaben der Behörden 102 Polizisten verletzt.

Die Spitzen der Kantonsregierung weigern sich zu verhandeln, die Demonstranten fordern ihren sofortigen Rücktritt. Hauptfeindbild ist Kantonspremier Sead Causevic, 64, ein Sozialdemokrat. Nachdem die Website des Kantons gehackt wurde, blieb die Regierung zunächst ohne Möglichkeit, sich an die Öffentlichkeit zu wenden.

Der Arbeiter Aldin Siranovic, inoffizieller Sprecher der Protestierer, warf der Polizei vor, sie habe aus heiterem Himmel mit Tränengas und Schlagstöcken friedliche Demonstranten angegriffen. Videos vom Mittwoch stützen die Darstellung. Siranovic, der zunächst nur als Gründer einer Facebook-Gruppe namens „Udar“ (Schlag) hervorgetreten war, wurde von der Polizei festgenommen und erst am Donnerstagabend wieder freigelassen. Auf einer einer Pressekonferenz am Freitag zeigte er Verletzungen vor, die von einer Misshandlung im Polizeigewahrsam herrühren sollen. Er rief die Demonstranten auf, von Plünderungen Abstand zu nehmen.

Das Land kommt nicht voran

Der Name der Facebook-Gruppe, Udar, deutet auf das Vorbild Ukraine. Grund zum Volkszorn haben die Bosnier genug: Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 27 Prozent, aber etwa 44 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung sind ohne Job. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 6.000 liegt das Land auf dem Niveau von Albanien und Namibia. Die komplizierte Verfassung des Nachkriegslandes, ein Produkt des Friedensvertrags von 1995, bietet jedoch weit über hundert Ministern ein erträgliches Einkommen - nicht zuletzt wegen Schmiergeldzahlungen und betrügerischen Privatisierungen. Angeschlossen haben sich dem Protest in einigen Städten auch Veteranenverbände und Fußball-Fanclubs.

Weil die Politiker der drei großen Volksgruppen - Bosniaken, Serben und Kroaten - einander blockieren, kommt das Land auf dem Weg in die EU nicht voran. Auch Proteste und Demonstrationen aus sozialem Anlass waren in den vergangenen Jahren stets auf eine der beiden „Entitäten“, muslimisch-kroatische Föderation und Republik Srpska, beschränkt geblieben. Das Bergbauzentrum Tuzla, mit 120.000 Einwohnern drittgrößte Stadt des Landes, gilt als ethnisch vergleichsweise indifferent. Als sich am Donnerstag das serbisch dominierte Prijedor anschloss, überschritt erstmals ein Protest die Entitätsgrenze.

Katalog mit Forderungen

Als Interpretin und Sympathisantin des Volksaufstands tritt neben Siranovic die bekannte Wirtschaftswissenschaftlerin Svetlana Cenic hervor. Dass sich die Bosnier aller Ethnien gegen sie zusammenschließen könnten, sei der „Alptraum der politischen Elite“, sagt Cenic,eine Serbin, die auch einmal Finanzministerin von Srpska war. Der Hunger aber werde das Volk einen. Mehr als hundert Verletzte Polizisten in Tuzla seien „mehr als in den schwersten Kämpfen in Kiew“. Dass die Welt trotzdem kaum berichte, liege an der „medialen Isolation“, die ein authentischer Volksaufstand freilich durchbrechen werde.

Im Netz kursiert ein Katalog mit Forderungen, die sich in erster Linie gegen die politische Klasse richten: Verlangt werden unter anderem die Beschränkung der Funktionärsgehälter auf 1250 Euro, die Aufhebung der Immunität für Parlamentarier, Transparenz, Unabhängigkeit der Gerichte, harte Strafen für Korruption und den Stopp „interner Stellenausschreibungen“, mittels derer viele Volksvertreter ein ausgedehntes Klientelsystem unterhalten. Zu den Forderungen zählt auch die Aufhebung der zehn Kantone in der Föderation, die für die Überpolitisierung der Verwaltung verantwortlich gemacht werden. Für Oktober sind allgemeine Wahlen angesetzt. Bisher hat die Bevölkerung stets mit großer Mehrheit die ethnisch orientierten Parteien ihrer jeweiligen Volksgruppe gewählt. Die Beteiligung hatte 2010 allerdings bei nur noch 35 Prozent gelegen.