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© picture-alliancePsychopathen gehen nicht immer bis zum Äußersten. Mancher wetzt die Klinge subtil
Psychopathen sitzen nicht nur in Kliniken oder Gefängnissen, sondern beispielsweise im Jura-Hörsaal oder an der Börse. Experten sagen: Eine Prise Psychopathie kann für die Karriere förderlich sein.

Ein Hörsaal der Universität Regensburg: Rund hundert Jura-Studenten sitzen auf Holzbänken und schauen hinter ihren Büchern hervor. Eben noch ging es noch um Verwaltungsrecht, jetzt übernimmt Hedwig Eisenbarth: "Ich möchte Sie bitten, Ihr eigenes Denken und Verhalten einzuschätzen", fordert die Psychopathie-Forscherin der Uni die Jura-Studenten auf. Die Psychologin schlängelt sich durch die Reihen und verteilt Fragebögen.

"Ich mache mir Gedanken, ob ich jemandem mit meinem Verhalten schade", lautet ein Punkt des Fragebogens. Die Studenten kreuzen an: falsch, eher falsch, eher richtig oder richtig. "Wenn ich will, kann ich Leute dazu bringen, zu tun, was ich will, ohne dass sie es jemals bemerken", lautet eine weitere Aussage. Insgesamt kreisen die Fragen darum, wie stressresistent oder wie furchtlos jemand ist, wie skrupellos er seine Interessen verfolgt und wie wichtig er die Gefühle anderer Menschen nimmt. Anhand der Antworten verortet Eisenbarth die Teilnehmer dann auf einer Psychopathie-Skala.

"Wenn jemand viele psychopathische Merkmale hat, heißt das nicht gleich, dass er gefährlich ist oder eine Therapie braucht", erläutert Eisenbarth ihren Versuch. "Psychopathie umfasst eine Reihe von Eigenschaften, die verschieden stark ausgeprägt sein können. Erst bei extremen Formen liegt eine Störung vor."

Nicht nur Extremfälle und Kriminelle

Ein überraschendes Ergebnis ihres Tests: Die Jura-Studenten erreichen recht hohe Werte auf der Psychopathie-Skala - zumindest mehr als ihre Kommilitonen aus anderen Fachbereichen.

Doch die "normale" Psychopathie ist bislang kaum erforscht. Jahrzehntelang richteten Forscher ihre Aufmerksamkeit auf Extremfälle und Straftäter. Das ist kein Zufall. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung liegt die Zahl der Psychopathen unter Häftlingen viel höher: Sie machen 20 Prozent der Insassen von Gefängnissen aus, heißt es in Studien. Und sie werden häufiger rückfällig als andere - innerhalb eines Jahres sogar dreimal so oft. Von der Diagnose Psychopathie hängt es inzwischen oft ab, ob ein Häftling vorzeitig in die Freiheit entlassen wird - oder nicht.

"Psychopathen haben nachweislich weniger Angst", sagt Niels Birbaumer, Professor für Psychologie und Neurobiologie an der Universität Tübingen. Er untersucht Gehirne von psychopathischen Straftätern im Kernspintomografen. Dabei fand er heraus, dass Hirnregionen, die mit Angst zu tun haben, bei Psychopathen wenig aktiv sind. "Durch die fehlende Angst fürchten kriminelle Psychopathen die Folgen ihrer Taten nicht. Sie haben auch weniger Schuldgefühle, denn auch Gefühle wie Reue entstehen durch Angst - der Angst vor Bestrafung", ergänzt Birbaumer.

Dem Psychopathen fehlen Reue und Rücksicht

Fehlende Reue angesichts grausamer Taten, rücksichtloses Verhalten gegenüber Mitmenschen und die kunstvolle Fähigkeit, andere charmant um den Finger zu wickeln - mit diesen Eigenschaften beschrieb der US-Psychiater Hervey Cleckley in den 1940er Jahren Menschen mit psychopathischer Persönlichkeit erstmals in einem Buch. Er stellte die damals neue Diagnose der Öffentlichkeit vor, verbunden mit dem Aufruf an seine Kollegen, bei der Erforschung des Phänomens mitzuhelfen.

Der forensische Psychologe Robert Hare knüpfte in den 70er Jahren an Cleckleys Forschung an. Der Kanadier entwickelte eine Checkliste zur Erkennung von Psychopathie, die bis heute verwendet wird. Inzwischen liegen massenhaft Daten über inhaftierte Psychopathen vor - allein der amerikanische Neurowissenschaftler Kent Kiehl von der Universität von New Mexico hat seit 2005 über tausend Häftlinge in den Hirnscanner geschoben. Dabei stellte er wie der Tübinger Hirnforscher Birbaumer fest, dass Hirnregionen im sogenannten limbischen System, in dem Gefühle verarbeitet werden, bei Psychopathen weniger aktiv sind.

Doch die Forschung hat inzwischen eine Wende genommen. Kevin Dutton, Psychologie-Professor von der Universität Oxford, überraschte die Öffentlichkeit 2012 mit seinem Buch "The Wisdom of Psychopaths". Darin zeigt er, dass Menschen mit psychopathischen Eigenschaften in vielen Top-Positionen in der Gesellschaft zu finden sind, zum Beispiel als Unternehmensleiter. Auch Anwälte oder Chirurgen waren darunter.


Wenig Emotionen machen Psychopathen erfolgreich

Ein psychopathischer Börsenhändler erklärt in Duttons Buch selbst seine Strategie zum Erfolg. Der Banker Don Novick bezeichnet sich als Psychopath und erreicht hohe Werte auf einer Psychopathie-Skala. Er definiert, was einen wirklich guten Börsenhändler ausmacht: zu keinem Zeitpunkt verwundbar oder emotional sein, unbarmherzig und ohne Reue auf die gegenwärtige Aufgabe fokussiert bleiben und sich niemals von vergangenem Erfolg oder Misserfolg beeindrucken lassen. Diese typisch psychopathischen Eigenschaften, erläutert der Banker, trennten in seinem Geschäft die Spreu vom Weizen. Während manche Kollegen nach einer harten Sitzung weinend zusammenbrächen, halte er als Psychopath dem Druck Stand.

"Ein bisschen psychopathisch schadet vielleicht nicht", sagt Eisenbarth. Dass Psychopathen weniger Angst haben, zeige sich beispielsweise auch darin, dass sie sehr selbstsicher auftreten. Sie stehen gerne im Mittelpunkt und haben wenig Sorge, dass andere sie ablehnen. Diese Eigenschaften können im Alltag durchaus vorteilhaft sein, betont die Psychologin.

Ein "gewisses antisoziales Verhalten"

Doch auch hier hängt alles vom Maß ab. Da Psychopathie mit einem gewissen Grad an antisozialen Verhalten einhergehe, könne es sich auch darin zeigen, dass diese Menschen ständig versuchten, ihre Familienmitglieder oder ihre Arbeitskollegen zu unterdrücken. "Im Umkehrschluss haben wir beobachtet, dass Menschen, die sehr wenige psychopathische Merkmale haben, eher ängstlich, unsicher und zurückhaltend sind", erklärt Eisenbarth.

Weil die Psychopathie-Forschung so lange hauptsächlich auf Straftäter fokussiert war, gibt es heute viel mehr Daten über Männer - denn sie begehen 95 Prozent der Straftaten. Neuere Studien haben jedoch gezeigt, dass viele Merkmale auch für Frauen gelten. Doch bei ihnen zeigt sich antisoziales Verhalten anders.

Männliche Psychopathen haben zum Beispiel oft schon als Jugendliche viele Vorstrafen und sind teilweise offen aggressiv. Mädchen fallen meist weniger auf. Sie begehen eher Bagatelldelikte, klauen etwa Lippenstifte. Oder sie verhalten sich sonst auf andere Weise antisozial, indem sie beispielsweise Gerüchte streuen.

Typische Muster erkennt man schon bei Kindern

Psychopathie ist bei Frauen insgesamt aber wohl seltener und weniger stark ausgeprägt, wie die Psychologin Eisenbarth bei Befragungen von Studierenden festgestellt hat. Wo die Ursachen dafür liegen, wissen die Forscher jedoch noch nicht.

Doch darüber, dass es eine genetische Veranlagung für Psychopathie gibt, sind sich viele Forscher einig. Ein Indiz dafür sehen sie darin, dass typische Verhaltensweisen bereits bei Kindern vorkommen. Neueren Studien zufolge deutet das Verhalten mancher Schulanfänger darauf hin, dass sie sich später zu Psychopathen entwickeln. Sie sind ihren Mitschülern gegenüber gleichgültig und kaltherzig. Oder sie sind besonders aggressiv und grausam, quälen beispielsweise Tiere.

"Eine genetische Veranlagung heißt jedoch nicht, dass die Eigenschaften unveränderbar sind", betont der Tübinger Neurobiologe Birbaumer. Der australische Psychologie-Professor Mark Dadds hat bereits gezeigt, dass gefühllose Kinder nach einem Empathie-Training sensibler wurden. Er forderte sie in regelmäßigen zehnminütigen Sitzungen auf, ihren Eltern direkt in die Augen zu schauen und dabei zu sagen: "Ich habe dich lieb!" Während die Kinder vorher Probleme damit hatten, Emotionen in Gesichtern abzulesen, konnten sie es nach sechs Monaten Training schon besser.


Kommentar: Die alternative Erklärung dafür ist, dass diese Therapie nicht wirkt, sondern der Psychopath nur schlauer geworden ist, und genau das tut, was von ihm erwartet wird, um die Therapie schneller zu beenden.


Problematische Kindheit bei vielen Patienten

"Ob ein Mensch mit psychopathischen Anlagen später im Gefängnis landet, hängt von verschiedenen Einflüssen ab", ergänzt Birbaumer. Viele psychopathische Straftäter hätten Traumata aus ihrer Kindheit und wurden von ihren Eltern vernachlässigt. Er vermutet, dass aber auch Intelligenz eine Rolle spielt - und die in der Kindheit antrainierte Fähigkeit zur Selbstkontrolle: "Wer intelligent ist und sich gut beherrschen kann, lebt seine Aggression oftmals anders aus als im Affekt zuzuschlagen. Er schmiedet langfristige Pläne, um jemandem zu schaden."

Dass eine problematische Kindheit die Psychopathie verstärkt, glauben auch andere Forscher. "Doch auch hier gibt es bisher hauptsächlich Daten über Inhaftierte", schränkt die Regensburger Psychologin Eisenbarth ein.

Eine Studie des Berliner Psychologen Stefan Schulreich gibt Hinweise darauf, warum psychopathische Eigenschaften Erziehung, Lernerfolg und Sozialisation beeinträchtigen könnten. In einem Experiment hat der Forscher von der Freien Universität Berlin bei Studenten EEG-Messungen gemacht. Er wollte wissen, wie ihr Gehirn auf positives und negatives Feedback reagiert. Im Labor lösten die Probanden Aufgaben am Bildschirm, bei korrekten Ergebnissen erschien ein lächelndes Gesicht, bei falschen ein verärgertes.

Wenn die Reaktion auf das eigene Tun egal ist

"Die EEG-Kurve verändert sich, sobald der Proband das Feedback erhält", erläutert Schulreich seinen Versuch. "Das zeigt, dass er auf die Bewertung reagiert." Er wollte nun untersuchen, ob Menschen, bei denen die für Psychopathen typische "furchtlose Dominanz" besonders ausgeprägt ist, hier anders reagieren.

Im Ergebnis reagierten Testpersonen mit diesem Merkmal schwächer auf Feedbackreize. "Ihnen war es - vereinfacht gesagt - weniger wichtig, ob sie falsch oder richtig lagen", fasst Schulreich zusammen. "Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum psychopathische Menschen aus negativen Erfahrungen weniger lernen und ein ,Tu-Das-Nicht' häufig nicht verinnerlichen."

Die logische Konsequenz liegt für viele Forscher darin, dass Lernen mit Belohnungen besser funktioniert. Studien haben bereits belegt, dass psychopathische Menschen generell auf Belohnungen stark reagieren. Aus dieser Erkenntnis entwickeln klinische Forscher und Therapeuten neue Ansätze. In der Behandlung von hochpsychopatischen Patienten werden Ideen entwickelt, um an positive Eigenschaften anzuknüpfen.

Außerdem werden sich in Zukunft die Einteilungen, wer als psychopathisch gilt und wer nicht, stärker verwischen. Denn während in den vergangenen Jahrzehnten Psychopathie häufig als statisch angesehen wurde, beobachten viele Forscher nun interessiert, wie sich Persönlichkeitsmerkmale im Laufe des Lebens verändern. "Bei aller Vorsicht - da Psychopathen viel Schaden anrichten können - reizt uns auch die Frage, wie viel Psychopathie nützlich ist", erklärt die Regensburger Psychologin Eisenbarth, "und welche Eigenschaften wir gezielt an- und abtrainieren können."