Flugzeugkabine Reise
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Ab und zu kommt es an Bord von Flugzeugen zu Störfällen: Gift aus den Triebwerken wabert durch die Kabine. Airlines und Flugzeughersteller spielen das Risiko herunter. Behörden und Forschungsinstituten mangelt es an Engagement, die Gefahr für Crews und Passagiere genau zu untersuchen.

Dass gelegentlich Schwaden von Abgasen kurzzeitig durch Flugzeugkabinen wehen, daran haben sich Fluggäste schon gewöhnt. Doch ein größeres Gesundheitsproblem blieb bisher weitgehend unbeachtet: Manchmal wabern Dämpfe von Triebwerksöl durch die Kabine. Darin enthalten: ein Additiv namens Trikresylphosphat (TCP). Dieser Stoff und seine Abbauprodukte im Organismus sind Nervengifte. Organisationen von Piloten und Flugbegleitern dokumentieren seit Jahren Fälle von Vergiftungen, doch die Airlines und Flugzeughersteller spielen das Risiko herunter. Behörden und Forschungsinstituten wiederum mangelt es an Engagement, die Gefahr für Crews und Passagiere genau zu untersuchen.

In den vergangenen Wochen berichtete erstmals in Deutschland das ARD-Fernsehmagazin "Plusminus" darüber. Nun beschäftigt das jahrzehntelang verschwiegene Problem auch bei uns Industrie, Verbände, Behörden und Politiker.

Als Reaktion auf den ARD-Beitrag räumte die Lufthansa in einer internen Mitteilung am 18. Februar gegenüber ihren Mitarbeitern ein, dass es bei einem von 2000 Flügen zu einem Zwischenfall mit Öldämpfen kommt. Aber nach außen bestreiten sie und ihre Mitbewerber sowie Flugzeughersteller die Gefahr auch weiter vehement. Solche Fälle würden "im Regelbetrieb nicht auftreten", teilten Lufthansa und Airbus mit.

Doch allein in England wurden im Jahr 2006 über 1050 solcher Vorfälle bei der Luftaufsichtsbehörde erfasst und - im Gegensatz zur Praxis in Deutschland - auch veröffentlicht. Ein weiterer Beleg: die 31 Proben, die die ARD-Redakteuren heimlich auf Flugzeugen prominenter Airlines genommen hatten und analysieren ließen. In 28 Proben wies das Labor teils hohe Mengen an TCP nach. Die latente Vergiftungsgefahr liegt in der Konstruktion der Kabinenbelüftung begründet: Die Triebwerke schaffen die Atemluft heran.

Der "Fan", jenes große Schaufelrad an der Frontseite des Triebwerks, saugt Umgebungsluft an. Von dort gelangt sie in die Verdichterstufen, wird komprimiert und erwärmt. Rohre leiten diese "Zapfluft" schließlich ungefiltert in den Innenraum. Das Triebwerk wird aber ähnlich wie ein Motor von Triebwerksöl geschmiert. Dem ist mit einem Gehalt von drei bis fünf Prozent TCP als Additiv beigemischt. Kommt es durch Wartungsmängel oder bei Dichtungsversagen zu einem Defekt, gelangen Öldämpfe, TCP und deren Zersetzungsprodukte in den Innenraum. Auch heftige Erschütterungen bei Start und Landung können bei einigen Flugzeugtypen eine Dichtung kurzzeitig öffnen. Dann gelangen am heißen Triebwerk erhitzte Öldämpfe in die Luft - und damit TCP.

Genau genommen ist TCP eine ganze Gruppe von insgesamt zehn Stoffen, bei denen lediglich die räumliche Anordnung der Molekülteile variiert ("Isomere"). TCP gehört zu der Klasse der organischen Phosphate, ähnlich dem Nervengift Sarin. Es wird als Zusatzstoff wegen seiner laufleistungsfördernden Eigenschaften sehr geschätzt. Ursprünglich nutzte man es auch als Flammschutzmittel, Hydraulikflüssigkeit, Benzinzusatz sowie als Weichmacher für PVC und andere Stoffe. Wegen ihrer Giftigkeit hat man die Substanz verbannt - außer in den Schmierstoffen für Jets.

Gefährliches Nervengift

TCP kann vor allem Nerven schädigen, es verursacht Lähmungen, die Monate oder dauerhaft anhalten können. Von Öldämpfen vergiftete Besatzungsmitglieder schildern unterschiedliche Akutsymptome: Anfänglich wird ein beißender Geruch wahrgenommen, der zu starken Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit sowie Erbrechen führen kann. Je nach Dosis und Dauer der Einwirkung treten aber auch Lähmungserscheinungen auf.

Auch in Deutschland sind zahlreiche Fälle bekannt, bei denen Besatzungsmitglieder in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt waren. Nur dem sofortigen Griff zur Sauerstoffmaske ist es zu verdanken, dass diese Flüge sicher beendet werden konnten. Das große Risiko für die Flugsicherheit: An Bord gibt es keinerlei Sensoren, die in so einem Fall warnen. Nur die Piloten verfügen im Cockpit über ein unabhängiges Sauerstoffsystem für den Notfall. Aber das gibt es nicht für Flugbegleiter und Passagiere. Sie müssen einatmen, was durch die Air Condition von den Triebwerken angesaugt wird.

Wie gefährlich TCP ist, weiß wohl niemand besser als der Toxikologe Professor Dietrich Henschler aus Würzburg. Der heute 84-Jährige war einst Vorsitzender der sogenannten MAK-Kommission (MAK = Maximale Arbeitsplatzkonzentration) und als solcher dafür mitverantwortlich, Grenzwerte gesundheitsschädigender Stoffe festzulegen. Henschler hat TCP und seine einzelnen Isomere bereits Ende der 50er-Jahre untersucht und darüber habilitiert. Dabei hat er festgestellt, dass nicht allein das bis dahin als toxisch eingestufte Isomer TOCP (Tri-Ortho-Kresylphosphat) zu Vergiftungen im menschlichen Organismus führen kann, sondern auch seine chemischen Verwandten, die "Meta- und Para-Isomeren". Doch in zahlreichen Untersuchungen in Zusammenarbeit mit Flugzeugherstellern und der britischen Luftfahrtbehörde CAA konzentrierte man sich bisher lediglich auf das lange als giftig eingestufte TOCP.

Erhitzte Ölrückstände in der Atemluft

Durch die jüngste ARD-Berichterstattung ist Professor Henschler 50 Jahre nach seinen Forschungen erneut auf das Problem aufmerksam geworden. Er warnt: "Bei TCP handelt es sich um einen extrem stark wirksamen Giftstoff. Das erzeugte Vergiftungsbild ist so erschreckend, dass eigentlich alles getan werden muss, um das zu vermeiden." Dass Zapfluft auch heute noch ungefiltert in die Kabine geleitet wird und so auch erhitzte Ölrückstände in die Atemluft gelangen, ist für ihn als Toxikologen absolut unverständlich.

Seine Kritik richtet sich aber auch gegen die bisherigen Untersuchungen, bei denen Experten lediglich auf das eine von insgesamt zehn Isomeren, das TOCP, fokussierten. "Das ist eine Oberflächlichkeit im Denkansatz", sagt Professor Henschler. "Und es ist eine grobe Unterschätzung des Giftpotenzials von Trikresylphosphat, wenn man sich lediglich auf TOCP konzentriert, welches die geringste Toxizität aller Ortho-Isomere aufweist." Schon 1958 hatte Henschler festgestellt, dass Bemühungen der chemischen Industrie, den Grenzwert der als giftig erkannten Tri-Ortho-Isomere zu senken, entgegen aller Erwartungen zu einem Anstieg der Toxizität bei den Mono-Ortho-Isomeren um den Faktor zehn führte.

Henschler verweist noch auf einen weiteren Mangel der bisherigen toxikologischen Studien: die Folgen der Giftaufnahme über unterschiedliche Wege. "Es wird oft argumentiert, dass beim Einatmen nicht geschehen kann, was nach der Aufnahme über den Mund oder über die Haut geschieht." Das gehe aber von einer falschen Annahme aus, denn letztlich sei nicht das Trikresylphosphat giftig, sondern vor allem ein Stoffwechselprodukt, das durch die Tätigkeit von Enzymen erst im Organismus entsteht. "Da spielt es keine Rolle, auf welche Weise das Trikresylphosphat in den Organismus hineingelangt." Der Stoff sei gut fettlöslich, so dass es gleichermaßen über die Haut, die Schleimhäute des Atemtraktes oder über den Magen-Darm-Kanal aufgenommen werden kann.

Vermeidbares Problem

Bereits seit über einem Jahrzehnt fordern Wissenschaftler aus den USA, aus England und Australien umfangreiche und sachgerechte epidemiologische Untersuchungen durch eine neutrale Institution. Die Auswirkungen von Triebwerksöldämpfen auf den menschlichen Organismus müssten endlich genau untersucht werden.

Eigentlich wäre das ganze Problem vermeidbar, wie die Technikgeschichte zeigt. Bei der Einführung von Jet-Flugzeugen Ende der 50er-Jahre kannte man zwei Wege, um Druckkabinen mit Frischluft zu versorgen: Der US-Triebwerkshersteller Pratt & Whitney stattete seine JT3-Triebwerke für die Boeing 707 und die DC 8 mit Turbokompressoren aus. Diese saugen Außenluft komplett getrennt vom Triebwerk an. Der britische Hersteller Rolls Royce dagegen entschied sich bei seiner Avon-Turbine für die Variante "Zapfluft" ("Bleed Air"). Die US-Luftfahrtbehörde FAA hatte den Amerikanern Turbokompressoren vorgeschrieben, da ihr bereits damals das Risiko von Luftverunreinigungen durch das Versagen von Dichtungen als zu hoch erschien.

Zwar wurden in den folgenden Jahrzehnten Düsentriebwerke immer zuverlässiger, auch Dichtungsversagen wurden seltener, aber es blieb ein Restrisiko. Schließlich setzte sich die Zapfluftvariante von Rolls Royce durch, denn sie verbraucht auch weniger Kerosin. Die FAA gab ihren Widerstand auf, und so wurde diese Technologie Mitte der 60er-Jahre zum Standard für die Boeing 727, die McDonnell-Douglas DC 9 und die Boeing 737.

Diskussion an Deutschland vorbeigegangen

Mit der Einführung einer neuen Triebwerksgeneration zu Beginn der 70er-Jahre gab es neue Anforderungen. Die Hersteller konzentrierten sich jetzt auf das Optimieren von Schubleistung, Spritverbrauch, Emissionen und Verschleiß. Dabei vernachlässigten sie jedoch eventuell auftretende Öldurchlässe bei Lagern und Dichtungen. So können auch heute noch Öldämpfe in das Lüftungssystem gelangen - und von Besatzungen und Passagieren eingeatmet werden. Obwohl technisch längst möglich, wird die Zapfluft auch bis heute nicht gefiltert.

Über die Auswirkungen der zahlreichen Zapfluftvorfälle auf die Gesundheit der Betroffenen wird auf das Heftigste gestritten - auch wenn diese Diskussion an Deutschland bislang weitgehend vorbeigegangen ist. Lösungen für die Betroffenen ist man indes nicht näher gekommen. Beispielsweise sind der amerikanischen Gewerkschaft der Flugbegleiter (AFA) rund 800 Einzelfälle von nur einer US-Airline bekannt, die in einem Zeitraum von zehn Jahren solchen Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt waren.

Auch das bereits erwähnte Eingeständnis der Lufthansa vom Februar 2009 ihren Mitarbeitern gegenüber unterstreicht eigentlich die Forderung nach baldiger Abhilfe. Denn wenn bei jedem 2000. Start ein Vorfall auftritt, wäre das allein bei der Kurz- und Mittelstreckenflotte der Lufthansa bereits ein Ereignis pro Tag. Allerdings muss man davon ausgehen, dass es bisher eine große Dunkelziffer gibt. Nicht selten werden die Erkrankungsbilder von Medizinern aus Unwissenheit fehlgedeutet. Aber auch die Betroffenen selber können oft keinen Zusammenhang zwischen ihrer plötzlichen Erkrankung und einem Vorfall auf einer vorangegangen Flugreise herstellen. Denn die Airlines sind noch nicht einmal verpflichtet, ihre Passagiere über solche Ereignisse zu informieren.

"Plusminus" hatte schon im Januar 2009 gefragt: "Wie häufig kommen solche Ölvorfälle vor?" Angeblich so gut wie nie, war die einhellige Antwort. Neutrale Daten waren nicht verfügbar, denn auch das Braunschweiger Luftfahrtbundesamt verweigerte die Auskunft. Die daraufhin genommenen Stichproben auf Maschinen renommierter Unternehmen wie Lufthansa, Condor, Air Berlin, Eurowings, Swiss und Easyjet wiesen alarmierend hohe Werte auf. Bei einer Boeing 757 der Condor waren sogar 1000fach höhere TCP-Rückstände vorhanden als im Durchschnitt der anderen Proben.

Besonders Flugzeuge vom Typ Boeing 757 und BAe 146 von British Aerospace beziehungsweise die daraus weiterentwickelten AVRO Regional-Jets scheinen dabei von Vorfällen mit Öldunst besonders betroffen zu sein. Das geht auch aus neueren britischen Daten sowie den Erkenntnissen eines Untersuchungsausschusses des australischen Senats hervor. Dieser wurde eingerichtet, nachdem Ende der 90er-Jahre auffallend viele Passagiere und Besatzungen nach Flügen auf Maschinen vom Typ BAe 146 an Vergiftungssymptomen litten. Eine wesentliche Erkenntnis der Untersuchungen war, dass alle Flugzeuge, die Kabinenluft aus Zapfluft generieren, von dem Problem betroffen sind. Das sind alle derzeit gängigen Typen.

Eine Frischluftversorgung, die garantiert frei von Ölrückständen sein wird, verspricht erst die Einführung der neuen Boeing 787 ("Dreamliner") im nächsten Jahr. Denn hier wird die Kabinenluft erstmalig seit über 40 Jahren wieder durch Öffnungen im Rumpf angesaugt und nicht durch die Triebwerke.