Haben die Börsen-Zocker nach über sechs Jahren Rally endlich ihren Zenit erreicht? Wird das Kasino bald wegen Erschöpfung geschlossen? Fragen wie diese wurden an der Wall Street bisher wie eine finanzielle Form der Gotteslästerung behandelt und unwirsch vom Tisch gefegt. Doch jetzt werden sie hoffähig.
Wall Street Flagge USA
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US-Notenbank-Chefin Janet Yellen hat vor wenigen Tagen zugegeben, dass die hohen Bewertungen am Aktienmarkt für Probleme sorgen könnten. Für eine Notenbankerin hat sie sich damit schon sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Jetzt meldet sich der bekannte Fondsmanager John Hussman zu Wort. Er sagt: Die Aktienkurse müssen 55 Prozent fallen, bevor sie auf den langjährigen Schnitt der Bewertungen zurückkehren.

Zugegeben: Das ist nur eine von vielen Warnungen, die wir ständig hören. Aber sie erinnert stark an die Warnung, die der Finanzanalyst und Bestsellerautor Gary Shilling im November 2006 aussprach. Shilling war einer von wenigen, die die Finanzkrise und die anschließende Rezession vorhersagten. Im November 2006 präsentierte er einen 40 Seiten langen Vortrag bei einer Investoren-Konferenz in New Orleans und sagte eine schroffe Korrektur des US-Immobilienmarktes um bis zu 40 Prozent vorher, »mit massiven Folgen für die Weltwirtschaft«.

Vier Monate später ging der viel beachtete Case-Shiller-Index für Häuserpreise in den USA in den freien Fall über. Kurz vorher schrieb der San Francisco Chronicle: »Der Markt beruhigt sich.« Forbes berichtete seinen Lesern zwei Monate vor dem schroffen Absturz von »vorsichtigem Optimismus«. Die Washington Post sagte eine »Erholung später im Jahr« voraus.

Auch diese Prognosen erinnern sehr an das, was wir derzeit in US-Zeitungen - und den deutschen Blättern, die sich darauf beziehen - lesen. Die US-Konjunktur kommt im ersten Quartal zum Stillstand. Und die Mainstream-Medien sagen fast flächendeckend für das zweite Quartal »eine Belebung« voraus.

Shilling warnte damals, die Häuserpreise hätten sich rekordverdächtig weit von der allgemeinen Teuerung entfernt. Inflationsbereinigt seien die Immobilienpreise so stark gestiegen wie seit 100 Jahren nicht. »Massive Spekulation«, dazu »lockere Kreditvergabe« und eine »gigantische Spekulation« hätten erstmals in der Geschichte der USA »eine landesweite Blase« erzeugt.

Mit gravierenden Folgen: »Die klaffende Lücke zwischen der realen Welt der Güter«, so Shilling, »und den Wertpapierkursen wird nicht verschwinden, bevor sie von einem großen Ereignis erzwungen wird«. Wie dieses Ereignis aussah, wissen wir: Ein Kollaps der Immobilienpreise, die Subprime-Krise, die Lehman-Pleite und die Große Rezession in weiten Teilen der Welt.

Die Parallelen zum November 2006 sind erstaunlich: Das hyper-billige Geld gibt es noch immer. Die Aktienkurse sind in einer stagnierenden Wirtschaft seit dem März 2009 um teilweise 300 Prozent gestiegen.

Die klaffende Lücke zur realen Wirtschaft hat sich wieder herausgebildet. Jetzt liegen die Kurse der Aktien an der Wall Street - gemessen an den Firmengewinnen - 50 Prozent höher als im historischen Schnitt.

Und das große Kasino fährt Überstunden: US-Firmen haben im April laut dem Wall Street Journal für 141 Milliarden Dollar - oft auf Pump - eigene Aktien zurückgekauft. Das waren so viele wie nie zuvor in einem Monat - und 121 Prozent mehr als im April des Vorjahres.

Viele Käufe erfolgen mit fremdem Geld: An der Wall Street wurden laut der New York Stock Exchange noch nie so viele Aktien auf Pump gekauft wie derzeit. Auch eine andere Warnung von Shilling ist so aktuell wie damals: »Ökonomen, Makler und Bauunternehmen«, so beklagte er sich im November2006, »glauben einfach nicht, dass es große Probleme geben könnte«.

Genauso ist es heute wieder: Anleger und Investoren sind absolut sicher, dass die Notenbanken mit immer neuen Geld-Orgien einspringen werden, wenn die Konjunktur zu schwach wird oder die Firmengewinne nachlassen.

Erstmals seit Jahren sinken an der Wall Street die Gewinne in der Bilanzrunde für das erste Quartal. Die US-Notenbank signalisiert brav, dass sie die Zinswende nach oben verschieben kann. Das ist der Grund, warum der Dollar derzeit korrigiert und der Euro nach mehrmonatiger Schwächephase wieder stärker wird.

Doch was jetzt kommt, ist nur der nächste Schuss aus der Pulle für eine Welt voller Junkies. Die mit kostenlosen Krediten vollgekifften Anleger tun dabei so, als hätten sie mit dem täglichen Geschehen in der realen Wirtschaft überhaupt nichts zu tun.

Zurück zu Hussmans Warnung, die Aktienkurse könnten über die Hälfte an Wert verlieren. Diese Warnung könnte aus der Prognose von Gary Shilling im November 2006 kopiert worden sein:
»Die Anleger preisen in die Aktien ihre Erwartung ein, dass wir noch viele Jahre Zinsen von null Prozent haben. Und ein Risiko ist in den Kursen keineswegs berücksichtigt.«
Ganz klar: Die Finanzwelt lebt noch immer im La-La-Land. Damals waren es vier Monate bis zum Absturz. Und heute? Wieder weiß es keiner. Aber die Schweißperlen vermehren sich fleißig ...