Ein „fast voll ausgebildetes Gehirn des Fötus“ aus der Petrischale? Ein amerikanischer Forscher führt uns in den wilden Westen der modernen Biomedizin.

Hirnknospe, künstliches Gehirn
© Rene Anand, Ohio State UniversityHirnknospe aus dem Anand-Labor, das verschiedene Abschnitte wie den Großhirnrinden-Ansatz (oben rechts) eines sich entwickelnden Fötus-Gehirns zeigt.
So genau, denkt der normale Mensch, wollen wir es gar nicht wissen. Und auch seriöse Forscher schlagen die Hände über dem Kopf zusammen - weil: Nichts genaues weiss man nicht. Es geht um die Präsentation eines Pharmakologen der Ohio State University, Rene Anand, der Anfang der Woche auf dem „2015 Military Health System Research Symposium“ in Florida das „bisher kompletteste menschliche Gehirn, das dem Reifegrad eines fünf Wochen alten Fötus entspricht“ in Bild und Ton vorgestellt hat. Es handelt sich um ein dreidimensionales menschliches Nervengewebe, ein sogenanntes Organoid, das Anand ursprünglich aus molekularbiologisch verjüngten Hautzellen eines erwachsenen Menschen erzeugt hat: Hautzellen wurden zu Stammzellen und die schließlich zu Hirngewebe umprogrammiert.

Der fötale Hirnklon eines Erwachsenen gewissermassen. Eine Sensation? Zum Gruseln reicht es vielleicht. Doch von einem „Wendepunkt“ in der Stammzellmedizin oder in der Erforschung neuer Therapien gegen Alzheimer oder Autismus, wie es die Ohio State University nahe legt, ist viel zu hoch gegriffen.

Hirn-Organoide, knospenartig wachsendes Nervengewebe, das aus Stammzellen erzeugt wird, gibt es spätestens seit den Arbeiten der Wiener Gruppe um Jürgen Knoblich vor drei Jahren im Dutzend. Allen Wissenschaftlern geht es darum, eine Art Mikrohirne in der Petrischale zu erzeugen, die nicht nur alle Zelltypen des menschlichen Gehirns enthalten, sondern auch so funktionieren - die im Kleinen elektrophysiologische Aktivität und Erregbarkeit zeigen, am besten synchronisierte Aktivität, wie man sie im echten Gehirn findet. Kurz gesagt: ein Modellhirn im Labor.

Dass das von Anand präsentierte Mikrohirn von der Größe eines Bleistiftradiergummis, wie er in Florida erzählte, mehr anatomische Bestandteile eines naturwüchsigen Fötusgehirns zeigt als alle bisherigen Organoide, besagt in dieser Hinsicht wenig. Die Mikroskopaufnahmen der Gewebeschnitte hätten ergeben, dass sein Modellhirn „funktionierende“, Signal übertragende Nerven mit allem drum und dran enthält, dass er Astrozyten, Oligodendrozyten, Netzhautzellen und Micrglia wie in jedem gewöhnlichen Hirngewebe nachgewiesen hat. Auch die Architektur der 15 Wochen alten Hirnknospen simuliert ganz offenbar den entwicklungsbiologischen Verlauf eines sich entwickelnden Embryonengehirns ganz gut - auch wenn es fast dreimal so langsam „reift“. Der entscheidende Punkt ellerings ist: Das Hirn-Organoid bildet wie alle anderen Stammzell-Minihirne bisher keinerlei Blutgefässe. Ein Kreislauf, der die energiebedrüftigen Hirnzellen mit lebensnotwenigem Sauerstoff versorgt, fehlt völlig. Die Zellen im Inneren des Gewebekonstrukts müssen sich passiv und damit denkbar ineffizient mit Luftsauerstoff versorgen.

Davon abgesehen, dass Anand bisher weder eindeutige Belege geliefert hat, die zeigen könnten, dass die Nervennetze zumindest vorübergehend halbwegs physiologisch korrekt arbeiten, ist damit selbst die Nützlichkeit als Modellgewebe für Medikamententests oder Toxizitätsprüfungen erst einmal komplett infrage gestellt. Die Hirnorganoide wachsen vielleicht, aber sie gedeihen nicht wirklich, wie er behauptet. Maximal ein Jahr können die Hirnknospen überleben. Das berichtete Knoblich vor einigen Monaten auf dem interantionalen Meeting des nordrhein-westfälischen Stammzellnetzwerks in Bonn. Und lange vorher schon sind die inneren Teile des Organoids von akuter Luftnot bedroht und viele Zellen bereits geschädigt.

Selbst den erfahrendsten Gewebezüchtern ist noch immer nicht klar, wie stark das künstliche Gewebe quasi schon beim Wachsen durch Genschäden oder Fehlprogrammierungen beeinträchtigt ist. Gleichzeitig ist klar: Wissenslücken und winzige Teilerfolge, auch solche mit vorerst marginalem Mehrwert wie in diesem Fall, trüben die Innovaitonslust kaum. Die Szene der 3D-Stammzellforscher wächst rapide, die Herstellung von Stammezllen und Geweben in der dritten Dimension in Bioreaktoren gilt als eines der heißesten Gebiete des „Tissue Engineering“. Nicht nur, weil die Forschung eines Tages möglicherweise transplantierbares Ersatzorgane liefern könnte, sondern weil sie Testgewebe liefert, das - anders als viele Versuchstiere - den natürlichen menschlichen Organen am nächsten kommt. Anand selbst, der eher zu den Quereinsteigern zählt, hatte zuletzt einen Misserfolg mit der Entwicklung eines Autismus-Wirkstoffs in Tierexperimenten zu verkraften. Ihm müssen solche spektakulären Gewebekreationen wie das rudimentäre Hirn-Organoid wie ein Lottogewinn vorkommen.