Van. Die Region Van bebt. Immer wieder. Mehr als 600 Menschen sind bei den Erdstößen seit 23. Oktober umgekommen. Jetzt ergreifen viele die Flucht.

Die Menschen in der Osttürkei kommen nicht zur Ruhe. Seit dem schweren Erdbeben, das am 23. Oktober die Provinz Van erschütterte, wird die Region von immer neuen, heftigen Nachbeben heimgesucht, das jüngste passierte am Dienstag mit der Stärke 5,2. Die Bebenserie hat bisher 644 Todesopfer gefordert. Bereits mehr als 2000 Gebäude stürzten ein, tausende Häuser sind unbewohnbar, zehntausende Bewohner obdachlos. Immer mehr verlassen die 400 000-Einwohner-Stadt Van. "Van ist eine Geisterstadt", sagt Provinzgouverneur Munir Karaloglu, "fast keines der Gebäude wird mehr benutzt." Die Obdachlosen leben in Zeltstädten.

Doch ein ungewöhnlich kalter November setzt den Menschen zu. In der Kreisstadt Ercis, die am schwersten zerstört wurde, ist das Thermometer jetzt auf minus 15 Grad gefallen. Gouverneur Karaloglu appellierte an die Menschen in anderen Teilen der Türkei, warme Kleidung und Decken zu spenden.

Hüseyin Celik, Abgeordneter der regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, kündigte an, die Obdachlosen würden in Hotels und Freizeiteinrichtungen in anderen Landesteilen untergebracht, bis ihre Häuser wieder aufgebaut seien. Celik rief seine Landsleute auf, Ferienwohnungen für die Bebenopfer zur Verfügung zu stellen. "Es ist unmöglich, in diesen Zelten einen Winter zu überstehen", sagte er.

Die aufstrebende Stadt Van, deren Geschichte fast 3000 Jahre zurückreicht, hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Menschen angezogen. Die Einwohnerzahl verdoppelte sich seit Mitte der 90er Jahre fast. Die Stadt war eines der wichtigsten Wirtschaftszentren der Osttürkei. Viele sprachen von Van als dem "Paris Ostanatoliens".

Jetzt fürchten örtliche Unternehmer, dass die Stadt ausblutet. Viele Schulen, Krankenhäuser und Hotels sind zerstört. Fast alle Studenten, die in Van die Universität besuchten, haben die Stadt verlassen. Die meisten gingen nach Adana, Mersin und Antalya an der Südküste oder nach Istanbul.

Auch von den 72 Firmen, die sich in der Industriezone von Van angesiedelt hatten, seien die meisten bereits abgewandert, heißt es. Faruk Alparslan vom Einzelhandelsverband in Van sagt, mehrere Bäckereien überlegten zu schließen, weil sie wegen des Massenexodus ihr Brot nicht mehr loswerden. "Ich unternehme alle Anstrengungen, um sie zum Bleiben zu bewegen."

Je mehr Bewohner Van den Rücken kehren, desto schwieriger wird es auch für die örtlichen Händler und Gewerbetreibenden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und je mehr Geschäfte und Betriebe schließen, desto weniger Arbeitsplätze gibt es - ein Teufelskreis.