Die Proteste in Russland geben eine Ahnung davon, welcher Unmut im Land tatsächlich herrscht - aber einige zehntausend Demonstranten sind in einer Millionenstadt wie Moskau nicht viel. Doch wenn Russlands starker Mann Wladimir Putin seine Glaubwürdigkeit nicht weiter verspielen will, muss er nun die staatliche Propaganda-Maschinerie im ganzen Land drosseln. Sonst bricht bei der Präsidentenwahl im März doch noch so etwas wie ein politischer Frühling an.
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© APParolen gegen Putin: regimekritische Demonstranten am Wochenende in Moskau.

Es gab wahrlich keinen Mangel an Ratschlägen der Behörden. Dicke Socken sollten die Demonstranten anziehen, warme Mützen mitnehmen, noch besser aber wäre es, gleich zu Hause zu bleiben wegen der vielen Menschen und der Grippeviren. Es nutzte nichts: Zehntausende, vielleicht hunderttausend gingen in Russland auf die Straße, um gegen Fälschungen bei der Parlamentswahl zu demonstrieren. Die russische Zivilgesellschaft ist aus ihrer Starre erwacht. Sie will nicht mehr Stimmvieh sein für eine selbstgefällige Regierungspartei, Staffage in einer gelenkten Demokratie, weit entfernt von einer echten.

Doch selbst wenn es im ganzen Land Demonstrationen gab, in Moskau und St. Petersburg, von Kaliningrad bis Wladiwostok - der Moskauer Dezember ist mit dem arabischen Frühling nicht vergleichbar. Noch nicht. In einem hat die umstrittene Regierungspartei Einiges Russland, Putins Geschöpf, nämlich Recht: Mehrere zehntausend Demonstranten sind nicht viele in einer solchen Millionenstadt, der größten Europas. Die unzufriedenen Russen haben ein deutliches Zeichen gesetzt, aber die Kraft reicht derzeit nicht aus, um gleich das ganze System ins Wanken zu bringen oder gar einen Machtwechsel herbeizuführen.

Äußerlich gelassen lässt Putin erklären, dass er das Recht der Demonstranten respektiere, ihre Meinungen ernst nehme. Mehr aber nicht. Von einer Wiederholung der Parlamentswahl ist keine Rede, und natürlich wird der Ministerpräsident nicht zurücktreten. Auch wenn Putins Bastion noch stark ist, seine Aura als unumstrittener Führer der russischen Nation schwindet. Das liegt auch an seinen Gegnern.

Es war kein Zufall, dass am Tag des großen Protests die Opposition den Rücktritt des bärtigen Wahlkomitee-Chefs Wladimir Tschurow verlangte. Putin selber kann sie noch nicht herausfordern. Als es ein Redner doch einmal versuchte und "Russland - ohne Putin" anstimmte, hallte das Echo der Menge nur dreimal. Dann verstummte der Sprechchor.

Der Widerstand gegen die unfaire Wahl vereint Parteien und Bewegungen, die sonst nicht vieles gemeinsam haben. Für den Augenblick genügt die Klammer. Doch wer Neues will, braucht ein größeres Fundament, eine Idee, den Rückhalt des Volkes, eine Person, in der sich alles bündelt. In Russland all das derzeit nicht zu haben. Zu heterogen ist die Opposition.

Die Protestbewegung würde zerfallen - wenn es um die Macht ginge

Da laufen zum Beispiel die Kommunisten: Sie fordern mehr Staat in den großen Unternehmen ein, also genau das Gegenteil von dem, was das nach Modernisierung gierende Land eigentlich bräuchte. Eitle Nationalisten sind ebenfalls unter den Demonstranten, auch Liberale nach westlichem Verständnis. Die Melange würde schnell wieder zerfallen, wenn es um die Macht statt lediglich um den Respekt vor dem Wähler ginge.

Das sollte die Regierung um Premier Putin und seinen auserkorenen Nachfolger Medwedjew deshalb nicht beruhigen. Die Warnrufe des Volkes sind schwer zu überhören, und erste Erfolge der Protestbewegung sind bereits zu sehen. Das staatliche Fernsehen berichtete ausführlich über das denkwürdige Ereignis, ließ sogar den Oppositionspolitiker Boris Nemzow zu Wort kommen. Dass der Zorn sich hauptsächlich gegen die Regierungspartei richtete, war freilich kaum zu vernehmen. Dennoch ist auch hier der zarte mediale Auftakt einer neuen Freiheit zu spüren.

Ob die Bevölkerung nun eine Wiederholung der Parlamentswahl erzwingen kann oder nicht: Die nächste Abstimmung steht bereits Anfang März an, dann wird der Präsident gewählt. Putin dürfte dabei trotz allem ungefährdet sein. Wenn er aber seine Glaubwürdigkeit nicht weiter verspielen will, muss er nun die staatliche Propaganda-Maschinerie im ganzen Land drosseln. Sonst bricht im März doch noch so etwas wie ein politischer Frühling an.

SZ vom 12.12.2011/odg