Mit 15 Jahren musste Kindersoldat Sylvère zum ersten Mal morden. Mit Drogen und Gehirnwäsche wurde er zum Killer geformt.
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© Philipp HedemannSylvere Ndayishimiye wurde im Krieg unfreiwillig zum Mörder

"Er starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an und schrie um Gnade. Dann rammte ich ihm das Messer ins Herz. Das war mein erster Toter. Es folgten ungefähr 35 weitere. Aber die durfte ich mit der Kalaschnikow erschießen. Das war nicht so schlimm." Mit einem von vielen Joints getrübten Blick starrt Sylvère Ndayishimiye ins Nichts und erzählt.

Die Drogen sollen ihm helfen zu vergessen, doch sie sind nicht stark genug. Immer wieder holt ihn seine eigene Vergangenheit ein. Der 22-Jährige war wie Tausende andere Jungs und Mädchen Kindersoldat im burundischen Bürgerkrieg zwischen Hutus und Tutsis, Rebellen und Regierung. Mehr als 250.000 Menschen starben.

"Da habe ich zugestochen"

"Wir hatten den Soldaten der Regierungstruppen gefangen genommen. Er war ein Tutsi. Vier Männer hielten ihn am Boden fest. Dann drückten sie mir das Messer in die Hand und sagten: Jetzt bist du dran!", erinnert sich Sylvère an den Tag, an dem er das Leben eines Mannes beendete und sein eigenes zerstörte. "Er war ungefähr 35, ich war 15. Ich sagte: Ich kann das nicht! - Töte ihn, oder wir töten dich, sagten meine Männer. Sie hielten Kalaschnikows im Anschlag. Da habe ich zugestochen", berichtet der junge Hutu mit müder Stimme.

Als das Blut an der Hand des Jungen kalt wurde, hatten die Kämpfer der burundischen Hutu-Rebellen-Organisation Forces Nationales de Libération (FNL) ihr Ziel erreicht. Sylvères Seele war so tot wie der erstochene Soldat, der Junge war zu einer Tötungsmaschine geworden. "Die nächsten Männer zu erschießen fiel mir leicht. Ich musste ihnen nicht in die Augen sehen. Nur der Mann, den ich erstochen habe, verfolgt mich in meinen Träumen", sagt der ehemalige Kindersoldat.
Wenn Waffen in Kinderhand geraten

Rund 250.000 Kinder und Jugendliche müssen laut der Menschenrechtsorganisation Terre des Hommes weltweit als Kindersoldaten arbeiten. Auch viele Mädchen sind unter den minderjährigen Kämpfern. Die meisten von ihnen werden in Afrika und Asien rekrutiert.
Das rohstoffarme Burundi ist das drittärmste Land der Welt. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 50,4 Jahren (80,4 Jahre in Deutschland), rund zwei Drittel der Bevölkerung müssen von weniger als einem Euro pro Tag leben, nur zwei Prozent der Bevölkerung haben zu Hause Strom.

Der von 1993 bis 2005 tobende Bürgerkrieg ist Hauptursache der katastrophalen Lage in der ehemaligen deutschen Kolonie, in der die Tutsis jahrzehntelang die politische und wirtschaftliche Elite bildeten, obwohl rund 85 Prozent der Bevölkerung Hutus sind. Als 1993 erstmals durch demokratische Wahlen ein Hutu-Präsident an die Macht kam, wurde er nach nur 100 Tagen im Amt ermordet, der Bürgerkrieg brach aus.

Die schlimmsten zwei Jahre seines Lebens

Bauernsohn Sylvère, der nie eine Schule besucht hat, wurde in diesem Krieg unfreiwillig zum Mörder. Er arbeitete als Koch, als 13 schwerbewaffnete FNL-Kämpfer ihn entführten. Noch am gleichen Tag schnitten sie ihm mit einem schmutzigen Messer einen Code in den linken Arm und seinen zukünftigen Dienstgrad - Späher - in den rechten. Sein ganzes Leben lang werden die schwülstigen Narben den ehemaligen Kindersoldaten an die schlimmsten zwei Jahre seines Lebens erinnern.

Zwei Monate lang musste Sylvère Munition und Proviant schleppen, immer auf der Flucht vor den Regierungstruppen, immer in Todesangst. Dann begann im burundischen Busch sein militärisches Training: Kung Fu, Pistole, Kalaschnikow, Handgranate, Granatwerfer - dann der erste Mord als Abschlussprüfung.

"Von meinem Hauptmann habe ich immer Drogen gekriegt, meist Cannabis aus Tansania, nachts haben wir Dörfer geplündert und alles geraucht und getrunken, was wir in die Hände bekamen. Die Drogen haben die Angst vor dem Töten genommen", erinnert sich der stockend sprechende Mann. Jetzt muss Sylvère sich die Drogen, die die Angst vor den Träumen nehmen sollen, selbst kaufen. Ein paar Krümel Haschisch hat er in ein Bananenblatt eingewickelt und neben sein Bett gelegt. Für die kommende Nacht reicht es.

Neben den Drogen sollte die politische Indoktrination Sylvère zu einem bedingungslosen Killer machen. "Sie haben mir gesagt, dass wir für das Gute und die Freiheit kämpfen. Sobald wir an die Macht kämen und unser Anführer Präsident wäre, sollte jede Familie eine Kuh und eine Ziege bekommen. Irgendwann habe ich das geglaubt", gibt Sylvère zu. Heute schämt er sich dafür.

"Kinder sind leicht zu manipulieren, können oft noch nicht genau zwischen Gut und Böse unterscheiden, streben nach Anerkennung, können Gefahren nicht richtig einschätzen und sind sich der Finalität des Todes nicht bewusst" sagt Théodora Nisabwe. "Gefühle werden ihnen systematisch abtrainiert. So werden sie oft besonders brutale Soldaten." Die Psychologie-Professorin an der Université du Burundi in der Hauptstadt Bujumbura hat für die UN eine Studie zu Kindersoldaten verfasst.

Zwangsrekrutierung von Straßenkindern

Einige ihrer Erkenntnisse: Kindersoldaten waren billiger als reguläre Soldaten, besonders oft wurden Straßenkinder zwangsrekrutiert, manche Waisenkinder schlossen sich den Kämpfern sogar freiwillig an, weil sie hofften, so Schutz zu finden. In Interviews mit ehemaligen Kindersoldaten erfuhr die Psychologin, dass die jungen Kämpfer oft an vorderster Front als Kanonenfutter verheizt oder als unverdächtige Kundschafter missbraucht wurden.

Mädchen dienten oft als Sexsklaven der Soldaten. "Die, die überlebt haben, sind meist schwer traumatisiert, und für ihre Reintegration wird zu wenig getan. Die wenigsten haben nach Ende des Konflikts eine Schule besucht", berichtet die Professorin. Weil Kindersoldaten im Krieg gelernt haben, sich mit Gewalt zu nehmen, was sie wollen, rutschen sie, wenn sie sich wieder in die Zivilgesellschaft eingliedern sollen, besonders oft in die Kriminalität ab.

Wunde lässt Sylvère noch heute humpeln

"Wir waren gute Soldaten", sagt Sylvère noch heute. "Wir waren viel weniger, aber wir haben die Regierungstruppen immer wieder in Hinterhalte gelockt und angegriffen." In seiner 200 Mann starken Einheit waren sieben weitere Minderjährige. Vier von ihnen sah er sterben, und auch ihn hätte es beinahe erwischt. Bei einem Gefecht traf die Kugel einer Kalaschnikow ihn an der linken Wade, der junge Krieger wurde gefangenen genommen.

Als er nicht verriet, wo die Rebellen sich versteckt hielten, rammte ein Soldat ihm ein Messer durch den Fuß. Trotz höllischer Schmerzen schwieg der Kindersoldat, wurde schließlich von den Rebellen befreit, doch die schlecht verheilte Wunde lässt Sylvère noch heute humpeln.

Eltern hatten Angst vor ihm

Wenige Monate nach seiner Befreiung hielt er das Morden nicht mehr aus, schlich sich nachts heimlich davon. "Hätten sie mich erwischt, hätten sie mich von hinten erschossen. Aber ich wäre lieber getötet worden, als weiterhin töten zu müssen", erzählt Sylvère. Doch warum hatte er nicht schon vorher versucht wegzulaufen? "Wenn wir nicht im Gefecht waren, bekam ich immer nur zwei Schuss Munition. Hätten sie mich entdeckt, hätte ich maximal zwei töten können, dann hätten sie mich getötet."

Als er zwei Jahre nach seiner Entführung plötzlich wieder in seiner Heimatstadt Bururi auftauchte, hatten selbst seine Eltern Angst vor dem tot geglaubten Sohn. "Alle fürchten sich vor mir, niemand will mir Arbeit geben, kein Mädchen möchte mit mir zusammen sein, dabei habe ich während des ganzen Krieges nicht eine einzige Frau vergewaltigt."

"Allen geht es schlechter als vorher"

Seit dem vergangenen Jahr nimmt die politisch motivierte Gewalt in Burundi wieder zu. Staatliche Sicherheitsbehörden haben nach Angaben von Bürgerrechtlern in den vergangenen sechs Monaten mehr als 300 ehemalige Rebellen und Unterstützer der Opposition hingerichtet. "Eine teuflische Tötungsmaschinerie richtet sich im ganzen Land gegen Anhänger der Oppositionsparteien", sagt Onesphore Nduwayo, Präsident einer Dachorganisation für Zivilgesellschaft in Burundi.

Die renommierte International Crisis Group warnt, viele perspektivlose, kampferprobte ehemalige Kindersoldaten könnten sich wieder den Rebellen anschließen. Angeblich zahlen die bewaffneten Gruppen stattliche Prämien. Im Land kursieren ungezählte Schusswaffen, Experten befürchten, das Land könne wieder in einen Bürgerkrieg abgleiten.

"Wie kann das sein? Wir haben gemordet und sind ermordet worden. Für nichts. Allen geht es schlechter als vorher" sagt Sylvère, der sich geschworen hat, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen. "Alles, nur nicht wieder Krieg."