Über viele Jahrmillionen bevorzugten die Vorfahren des Menschen die Fortbewegung mittels Armen und Händen. Sie gingen auf allen Vieren. Doch eines Tages richtete sich der erste Mensch auf. Was bewog ihn zu dieser ziemlich verändernden Tat? Dies fragen sich viele Wissenschaftler und manch einer glaubt, dass er die Antwort gefunden hat. Eine Lösung könnte die sogenannte Ufertheorie des Humanbiologen Carsten Niemetz sein. Sein „AHA-Erlebnis“ liegt jetzt ca. 10 Jahre zurück. Er beobachtete an einem Berliner Badesee, wie sich große und kleine Menschen am und im Wasser vergnügten: Sie lagen am Strand, einige wenige schwammen im Wasser und sehr viele wateten im seichten Wasser.

Niemetz geht davon aus, dass die Liebe zum Wasser - inbesondere zum flachen Wasser - tief im Menschen verwurzelt ist und bis zu den Anfängen des Menschseins zurückreicht. Der Leiter der Arbeitsgruppe für Humanbiologie und Anthropologie an der Freien Universität Berlin (Deutschland) sammelt seit diesem Tag Belege aus allen Disziplinen, die beweisen, dass die Urmenschen den aufrechten Gang in unmittelbarer Ufernähe von Gewässern entwickelt haben müssen. Damit widerspricht Niemetz all jenen Kollegen, die glauben, dass sich der Mensch in der Savanne aufrichtete, um besser sich anschleichende Feinde bemerken zu können. Die Savannen-Theorie hat es mittlerweile sogar in die Geschichtslehrbücher geschafft.

Die Mehrheit der Forscher sieht die Ufertheorie allerdings noch immer sehr kritisch. Doch davon lässt sich Niemetz nicht beeindrucken und setzt seine Forschungen fort. Dies wiederum nehmen WDR und Arte zum Anlass und zeigen am Donnerstagabend einen Film, der die Ufertheorie näher beleuchtet. Die unter Forschern umstrittene Dokumentation heißt „Das Geheimnis des aufrechten Gangs“.

Der aufrechte Gang des Menschen gibt noch immer Rätsel auf

Erstaunlicherweise sprechen beim menschlichen Körper viele Anzeichen dafür, dass wir uns an längere, aufrechte Aufenthalte im Wasser anpassten. Ein Beispiel von vielen ist die Tatsache, dass beim Menschen kaum Wärme über die Beine abgegeben wird. Hier unterscheiden wir uns deutlich von den anderen Menschenaffen. Analysen mit der Wärmebildkamera bestätigen diese Ausnahme.

Der Biologe von der FU-Berlin sieht den Wasserdruck als hilfreichen Unterstützer bei der Entwicklung des aufrechten Ganges. Denn zunächst bewirkt diese Veränderung, dass die Beine schwieriger zu durchbluten sind. Der Wasserdruck erleichtert die Durchblutung. Außerdem war es viel einfacher, im Wasser watend an Nahrung zu kommen. Vom Ufer aus ließen sich Fische erbeuten und Muscheln oder anderes Kleingetier fangen bzw. sammeln. Diese hochwertigen Proteine haben vermutlich die Entwicklung des Gehirns sehr positiv beeinflusst.

Einige Kollegen unterstützen den Berliner Forscher. So konnte der Potsdamer Geowissenschaftler Martin Trauth durch die Untersuchung von Sedimenten nachweisen, dass es in Afrika ein feuchtes Klima gab, als sich die frühen Vormenschen entwickelten. Dies belegen heute letztlich Sedimente von längst ausgetrockneten, afrikanischen Seen.

Möglicherweise fanden grundlegende Schritte in der Evolution des Menschen öfters in feuchten bzw. wechselhaften Phasen statt als in Trockenperioden. So entdeckte der Paläontologe Friedemann Schrenk in Afrika bei Ausgrabungen für das Senckenberg Institut in Frankfurt am Main Belege dafür, dass frühe Menschen an Ufern lebte. Denn viele fossile Menschenknochen wurden gemeinsam mit den Überresten von Krokodilen und Flusspferden gefunden. Beide Arten leben heute noch im und am Wasser.

Gros der Experten: allgemeine Liebe zum Wasser ja, Ufertheorie im Speziellen nein

Andere Wissenschaftler allerdings stehen der Ufertheorie äußerst kritisch gegenüber. Auch sie kennen die Funde und versuchen sie einzuordnen. Allerdings möchten die meisten Wissenschaftler die Wassernähe eher als allgemeine Liebe zum Wasser verstanden wissen und nicht speziell in der Ufertheorie zusammenfassen. So gibt der Experte Philipp Gunz, der am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig forscht, zu bedenken, dass die von der Ufertheorie kritisierte Savannen-Hypothese mittlerweile eh verworfen wurden. Die Wissenschaft geht indessen viel mehr davon aus, dass der aufrechte Gang sich bereits entwickelte als unsere Vorfahren noch in den Bäumen lebten. Die interessantere Frage für die Anthropologen ist demnach, ob der aufrechte Gang mehrfach an verschiedenen Orten und unabhängig voneinander entstand.