fettleibigkeit, dick, übergewicht
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„Werden wir von unserer Darmflora regiert?“ fragen Mediziner plakativ auf einem Kongress in Hamburg. Billionen Bakterien besiedeln den Darm des Menschen. Durch neue Methoden lassen sich Rückschlüsse auf ihre Rolle bei Übergewicht oder Stoffwechselerkrankungen ziehen.

Schätzungen zufolge leben an und im menschlichen Körper etwa zehnmal so viele Bakterien wie der Mensch Zellen besitzt. Viele Mikroorganismen haben sich im Dickdarm eingenistet, und helfen bei der Verdauung. Experten gehen davon aus, dass es etwa 1000 unterschiedliche Bakterienstämme gibt. „Neue molekularbiologische Methoden erlauben es endlich, die speziellen Bakterienkolonien in unserem Körper detailliert zu untersuchen“, sagt Prof. Stephan Bischoff von der Universität Hohenheim in Stuttgart. Auf der Tagung „Viszeralmedizin 2012“ in Hamburg leitet der Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin ein Symposium. Mehr als 4000 Experten für Krankheiten des Verdauungssystems treffen sich noch bis zum Sonnabend in der Hansestadt.

Weil viele der Darmbakterien außerhalb des Körpers nicht überleben können und Tests an Bakterienkulturen nur begrenzt möglich sind, blieb ihre Identität bislang mehr oder weniger im Verborgenen. Inzwischen gibt es Erkenntnisse über ihre Rolle bei entzündlichen Darmerkrankungen und Störungen des Immunsystems - auch dank der Forschung an Schnipseln des Bakterienerbguts, die sich im Stuhl nachweisen lassen. „In jüngster Zeit mehren sich die Hinweise, dass auch die Entstehung von Übergewicht etwas mit der Darmflora zu tun hat“, sagt Bischoff.

Einen dieser Hinweise bietet eine Studie, die im International Journal of Obesity veröffentlicht wurde (obesity = Fettleibigkeit). Mehr als 11 500 britische Kinder der Jahrgänge 1991 und 1992 wurden über die Jahre mehrfach gewogen. Hatten sie im ersten Halbjahr ihres Lebens Antibiotika zur Bekämpfung bakterieller Infekte erhalten, so waren sie mit drei Jahren eher übergewichtig. Dieser Zusammenhang ließ sich für eine spätere Gabe von Antibiotika nicht bestätigen.

Bereits 2011 hatten internationale Forscher berichtet, dass sich Menschen in drei verschiedene Darmtypen einordnen lassen könnten. Ob ein Mensch dick sei oder nicht, könnte auch daran liegen, welche Bakterien das Verdauungssystem besiedeln, hieß es. Laut Bischoff haben dicke Menschen mehr sogenannte Firmicutes-Bakterien im Darm. Diese helfen, schwer verdaubare Kohlenhydrate aufzunehmen. Auch bei Normalgewichtigen werde durch mehr Nahrung die Zahl der Firmicutes erhöht - und dadurch mehr Energie gewonnen. „Zu viel Essen wird doppelt bestraft“, sagt Bischoff. Erstens durch die übermäßige Zufuhr von Energie. Zweitens werde die Verwertung der Nahrung durch ein Mehr an Firmicutes optimiert. Die Folge: Überschüssige Energie lagert sich als Fett an Hüften und Bauch ab.

Wird die Mikroflora eines Lebewesens in den Darm eines anderen verpflanzt, so nimmt sie bestimmte Informationen und Funktionen mit. Das zeigte beispielsweise eine Gruppe, an der Prof. Philip Rosenstiel vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel beteiligt ist. Das Team machte Experimente mit Mäusen mit einem Enzymmangel. „Bei diesen Tieren ist das Immunsystem geschwächt, die Mikroflora im Darm ist verändert, und sie neigen mehr zu Entzündungen“, sagt Rosenstiel. Die Forscher „verpflanzten“ Exkremente dieser Nagetiere in den Darm gesunder Labormäuse: Diese zeigten daraufhin ebenfalls Entzündungszeichen. „Man kann aber streng genommen nicht von einer Ansteckung im Sinne einer Infektion sprechen“, sagt Rosenstiel.

In einer kleinen Studie machten unlängst niederländische Mediziner Versuche mit 18 fettleibigen Männern, die Störungen des Zuckerstoffwechsels hatten (erschienen in Gastroenterology). Ein Teil dieser Männer bekam Darmbakterien von schlanken Menschen in das Verdauungssystem „gespült“. Die Darmflora hatte sich daraufhin sechs Wochen später verändert. Die Männer konnten den Zucker besser verarbeiten.

„All diese Studien liefern Erkenntnisgewinn und eröffnen eine neue Spielwiese für therapeutische Konzepte“, sagt Bischoff. So könnte die Darmflora noch gezielter über die Ernährung oder durch Medikamente manipuliert werden, wie das ja teils schon geschehe. „Auch wenn konkrete Mikrobiotika noch Zukunftsmusik sind, so sind die Ergebnisse doch ein Lichtblick, beispielsweise in Sachen Adipositas-Behandlung.“

dpa