Bild
© corbisAlter Arzneimittel: Oftmals länger verwendbar.
Setzt die Pharmalobby kurze Haltbarkeitsdaten für Arzneimittel durch, um Profite zu steigern? Welche Medikamente kann man nach Ablauf des Verwendbarkeitsdatums problemlos weiternehmen? Und welche auf keinen Fall? Pharmazeut Jörg Breitkreutz klärt auf.
Zur Person

Jörg Breitkreutz ist Direktor des Instituts für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie der Uni Düsseldorf und Präsident der Arbeitsgemeinschaft für pharmazeutische Verfahrenstechnik.

SPIEGEL ONLINE:
Warum sind die Verfallsdaten für Medikamente so kurz - damit die Pharmaindustrie besser verdient?

Breitkreutz: Das ist ein weit verbreitetes Vorurteil. In Wirklichkeit liefert der Hersteller Daten zur Stabilität des Medikaments an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn (BfArM) oder die European Medicines Agency in London (EMA). Die legen dann das Verwendbarkeitsdatum fest. Das kann sich bei einem Medikament unterschieden - je nach Klimazone. In den USA kann für Arzneimittel im feucht-heißen Florida ein anderes Haltbarkeitsdatum gelten als im kälteren Norden.


Kommentar: Der Pharmalobby kann dennoch so etwas zugetraut werden, dass sie bewusst die Haltbarkeitsdaten verkürzen.


SPIEGEL ONLINE: Und wenn die Firmen die Haltbarkeitsdaten aus Florida für die Zulassung in Deutschland einreichen würden? Dann könnten die Unternehmen öfter eine neue Schachtel verkaufen, weil die alte jeweils nach kurzer Zeit nicht mehr verwendbar wäre...

Breitkreutz: Ein solcher Fall ist mir nicht bekannt. Bei welchem Arzneimittel würde sich so ein Vorgehen überhaupt lohnen? Nicht bei den Blockbuster-Medikamenten gegen die großen Volkskrankheiten wie Bluthochdruck, denn die werden ja durchgehend genommen. Das Unternehmen hat mehr davon, wenn sich ein Produkt länger hält - es dauert ja, bis das Produkt vom Aufdrucken des Haltbarkeitsdatums bis zum Patienten gelangt. Lager, Großhandel, Apotheke - überall liegt das Medikament erst mal herum. Mit kürzerem Verfallsdatum riskiert man, dass große Mengen unverkäuflich werden.

SPIEGEL ONLINE: Sogar Ohrstöpsel haben ein Verfallsdatum. Ist das nicht ein bisschen übertrieben?

Breitkreutz: Solange die Packung verschlossen ist, mag das übertrieben wirken. Aber immer, wenn ein Produkt direkten Körperkontakt hat, müssen die Hersteller ein Verwendbarkeitsdatum aufdrucken. Ohrstöpsel sind kein Arzneimittel, sondern ein Medizinprodukt. Das heißt, der Hersteller muss nicht mit der Behörde eine Verwendbarkeitsdauer festlegen, sondern das macht eine "benannte Stelle", zum Beispiel der TÜV.

SPIEGEL ONLINE: Was kann passieren, wenn ich eine Aspirin-Tablette nehme, die fünf Jahre älter ist als ihr Verfallsdatum?

Breitkreutz: Nichts Schlimmes, weil sich der Wirkstoff Acetylsalicylsäure (ASS) in zwei ungiftige Produkte zersetzt: Die Salicylsäure, die sogar weiterhin als schwaches Schmerzmittel wirksam ist, und die Essigsäure. Die Tablette schmeckt und riecht vielleicht nicht mehr so gut, und die Dosierung der ASS wird etwas niedriger sein, das ist alles.

SPIEGEL ONLINE: Also könnte Aspirin durchaus eine längere Verwendbarkeit haben?

Breitkreutz: Mehrere Firmen haben gegen zu kurze Haltbarkeit ihrer Produkte prozessiert, meistens haben sie allerdings verloren. Die Gerichte haben entschieden: Die Produkte dürfen kein Verwendbarkeitsdatum länger als fünf Jahre haben, weil sich der Stand des Wissens in der Zwischenzeit ändern kann. Vor wenigen Jahren hat man noch nicht gewusst, wie stark und lang anhaltend ASS die Blutgerinnung hemmt. Das heißt, auch die Nebenwirkungen, unter anderem Magen-Darm-Blutungen, und die Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sind früher nicht entsprechend in der Packungsbeilage erwähnt worden.

SPIEGEL ONLINE: Wenn ich mal weiter meine Hausapotheke durchgehe - reines Vitamin C in Pulverform, vier Jahre abgelaufen, ist das bedenklich?

Breitkreutz: Vitamin C wird mit der Zeit abgebaut, aber die Abbauprodukte kommen auch in der Natur vor und sind unschädlich. Ich persönlich würde abgelaufene Vitamin C Produkte auch noch weiter verwenden.

SPIEGEL ONLINE: Jodsalbe, Verwendbarkeitsdatum von vor 13 Jahren?

Breitkreutz: Es wird deutlich weniger Jod drin sein als damals. Es verdampft, vor allem an der Hinterseite der Tube durch den Falz. Passieren wird Ihnen nichts, aber die Wirksamkeit wird schlechter sein. Gerade diese antiseptischen Produkte würde ich mir oder meinen Kindern nicht mehr draufschmieren, weil ich nicht weiß, was damit passiert ist.

SPIEGEL ONLINE: Einzeln abgepackte Augentropfen, vor zehn Jahren abgelaufen?

Breitkreutz: Augentropfen, die mehr als eine Dosis enthalten und die einmal geöffnet sind, darf man auf keinen Fall länger als bis zum Ende der angegebenen Aufbrauchfrist verwenden. In die Behältnisse von Einmal-Augentropfen dagegen kann eigentlich kein Keim kommen. Das Problem ist, dass Sie eine Infektion am Auge nur ganz schwer zurückdrängen können. Deshalb würde ich mich auf das niedrigste Risiko begeben, das geht. Die Keimfreiheit wird nur für die Verwendbarkeitsdauer garantiert. Ich würde diese Augentropfen nicht mehr verwenden.

SPIEGEL ONLINE: Ich hab's schon benutzt, es ist nichts passiert...

Breitkreutz: In den meisten Fällen wird nichts passieren, aber ich würde niemandem raten, dieses Risiko einzugehen. Auch ich nehme gelegentlich abgelaufene Medikamente, aber ich weiß einiges darüber und überlege mir genau welche. Ich habe auch schon solche verwendet, die ich heute nicht mehr benutzen würde.

SPIEGEL ONLINE: Welche?

Breitkreutz: Codein-Säfte gegen Reizhusten habe ich früher einmal nach dem Verfallsdatum verwendet. Dann habe ich gelernt, dass darin ein Abbauprodukt entstehen kann, das krebserregend ist. Solche Säfte würde ich nach Ablauf des Verwendbarkeitsdatums meinen Kindern nie mehr geben. Auch da wird wahrscheinlich nie was passieren, aber wenn das Kind später ein Karzinom hat und Sie überlegen sich, ob Sie schuld sind...

SPIEGEL ONLINE: Aber es ist eher selten, dass ein neuer schädlicher Stoff entsteht?

Breitkreutz: Der häufigere Fall ist, man hat eine Erkrankung, die man dann eine lange Zeit nicht hat - und man hat noch das Medikament vom letzten Mal, das nun über das Verwendbarkeitsdatum hinweg ist. Zum Glück werden bei gängigen Erkrankungen in der Regel keine Arzneistoffe eingesetzt, bei denen toxische Abbauprodukte bekannt sind. Beim Husten kann es aber natürlich sein.

SPIEGEL ONLINE: Gibt es weitere Medikamente, bei denen nach Ablauf des Verwendbarkeitsdatums gefährliche Substanzen entstehen können?

Breitkreutz: Ja, zum Beispiel Hydrochlorothiazid, ein entwässernder und dadurch blutdrucksenkender Wirkstoff. Beim Abbau entsteht in Anwesenheit von Wasser oder Luftfeuchtigkeit Formaldehyd, man kann das sogar in den Tabletten-Blistern nachweisen. Formaldehyd kommt zwar auch im Körper vor, ist aber, wenn man einen gewissen Wert überschreitet, toxisch, auch kanzerogen. Ob das in kleinen Mengen bei dauerhafter Anwendung toxisch ist, hat keiner untersucht, Kindern würde ich so etwas nie nach Ablauf des Verwendbarkeitsdatums geben.

SPIEGEL ONLINE: Was ist mit dem Hustensaft Ambroxol? Ein halbes Jahr haltbar nach Anbruch, da geht doch noch ein bisschen mehr, oder?

Breitkreutz: Würde ich nach diesem Zeitpunkt nicht mehr verwenden. Der Hersteller garantiert die ausreichende Konservierung nur so lange, wie die Flasche verschlossen ist. In dem Moment, in dem die Flasche geöffnet wird, erlischt das. Der Hersteller kann ja nicht wissen, welche Keime dann in der Nähe sind.

SPIEGEL ONLINE: Aber warum kann er es ausgerechnet für ein halbes Jahr garantieren?

Breitkreutz: Es gibt einen Test zur Prüfung auf ausreichende Konservierung. Dort werden die fertigen Produkte absichtlich mit Keimen versetzt, die besonders gefährlich sind. Dann schaut man sich an, wie lange die Konservierungsstoffe in der Lage sind, diese Keime in ihrem Wachstum zu hemmen. Der Test dauert aber nur ein halbes Jahr.

SPIEGEL ONLINE: Im Sommer habe ich ja keinen Husten, bei dem halben Jahr Haltbarkeit wittere ich doch einen Lobbyeinfluss!

Breitkreutz: Es gibt durchaus Hustenerkrankungen im Sommer. Mir ist kein Fall bekannt, wo ein Unternehmen eine zu kurze Haltbarkeit auf sein Produkt geschrieben hätte, um mehr Profit zu machen. Ich kenne nur das Gegenteil, dass Firmen versuchen, längere Haltbarkeitsdaten zu bekommen oder nicht angeben, wie toxisch das Nebenprodukt sein könnte.

SPIEGEL ONLINE: Können Firmen damit durchkommen oder können wir uns auf die Behörden verlassen?

Breitkreutz: Das wird in der Regel nicht publik, sondern in sogenannten Mängelrügen von der Behörde beanstandet. Die Behörden prüfen nach meinen Erfahrungen die Zulassungsanträge sehr gründlich. Der Arbeits- und Zeitaufwand ist gigantisch, was manchmal auch zu Klagen der Unternehmen führt. Ich denke, wir können uns auf die Behörden verlassen. Aber ausgeschlossen ist nie, dass nach der Zulassung noch herauskommt, dass es zum Beispiel toxische Nebenprodukte gibt. Oft weiß auch der pharmazeutische Unternehmer zum Zeitpunkt der Antragstellung davon nichts. So traurig das ist, aber manchmal zeigt sich ein Problem erst, wenn ein Arzneimittel bei sehr vielen Menschen angewendet wurde.