Eine Welle schwappt aus den USA herüber: Immer mehr Menschen verzichten auf Eiweiß - obwohl sie nicht müssten. Was sagt die Wissenschaft zu dem Phänomen?
Bild
Zumindest in der Meinung von William Davis fing das Übel vor zehntausend Jahren an. Damals machte der Mensch, so der amerikanische Präventivmediziner, den verhängnisvollen Fehler, das erste Mal Weizen anzupflanzen. Weil er in den vergangenen Jahrzehnten die Pflanze zudem durch genetische Veränderungen weiter umwandelte, behauptet Davis in seinem Bestseller mit dem programmatischen Titel Weizenwampe, habe er nun mit den leidigen Zivilisationskrankheiten zu kämpfen. Denn das neue Zuchtprodukt bekomme nicht nur Herz, Hirn und Haut schlecht. Weizen macht laut dem Amerikaner auch dick und süchtig, er verursacht Diabetes und Krebsleiden.

Was immer man auch von Davis Thesen halten mag, feststeht zumindest, dass mit dem Weizen etwas auf unserem Teller landete, an dem sich zumindest unser Verdauungstrakt die Zähne ausbeißt: das Gluten. Es ist ein Protein, wie Peter Köhler, stellvertretender Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie in Freising erklärt, das sich in der Pflanzenzelle als Nährstoffspeicher für bestimmte Aminosäuren bewährt, im menschlichen Darm jedoch den Verdauungsenzymen ihre Grenzen zeigt. Weil sie das Gluten nicht vollständig zerlegen können, bleiben stets mehr oder weniger lange Eiweißbruchstücke zurück - bei einem von 270 Schweizern mit der verhängnisvollen Folge, dass ihr Immunsystem das Auftauchen dieser Häcksel als feindliche Attacke interpretiert und zusammen mit den Glutenresten auch die eigene Darmwand attackiert. Einem Zöliakie- oder Spruekranken, wie sich diese Krankheit nennt, raten Ärzte deshalb zur absoluten Glutenabstinenz.

Trotzdem haben inzwischen weitaus mehr Menschen dem Eiweiß abgeschworen. Glutenfreie Produkte liegen im Trend, füllen mit zweistelligen Zuwachsraten die Supermarktregale - obwohl nur einer von vier Käufern dieser Produkte tatsächlich eine Zöliakie hat. Das liegt zum einen an amerikanischen Superstars wie Lady Gaga, Gwyneth Paltrow und Miley Cyrus, die glutenfreie Nahrungsmittel als Lifestyleprodukte und Kur für Gesundheit, Schönheit und ewige Jugend bewerben. Das liegt aber auch daran, dass William Davis krude Theorien in abgeschwächter Form durchaus Karriere machen: So sollen nicht nur Gwyneth Paltrows Kinder als Glutensensitive auf das Eiweiß allergisch reagieren. Manche behaupten sogar, dass bis zu eineinhalb Millionen Schweizer unter dieser Form der Getreideunverträglichkeit leiden und deshalb mit Symptomen wie Bauchschmerzen, Durchfällen und Blähungen aber auch Müdigkeit und Kopfschmerzen zu kämpfen haben.


Dass es eine solche Krankheit gibt, bestreiten dabei inzwischen nur noch die wenigsten Experten: "Hätten Sie mich vor fünf Jahren gefragt, hätte ich die Existenz einer Glutensensitivität noch bezweifelt. Mittlerweile sehe ich das anders", sagt Stephan Vavricka, der Leiter der Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie am Stadtspital Triemli in Zürich. "In meine Sprechstunde kommen viele Patienten, die auf eine glutenfreie Ernährung sehr positiv reagieren." 2011 zerstreute die australische Forscherin Jessica Biesiekierski letzte Zweifel, als sie in einer Studie bewies, dass es angeblich Glutensensitiven tatsächlich schlechter geht, wenn man sie mit glutenhaltigem Brot oder Muffins füttert, statt mit Produkten, die das Eiweiß nur scheinbar enthalten.

Nur trotz gründlichstem Suchens: Gründe, die diese Symptome erklären, konnte weder Biesiekierski noch irgendein anderer Wissenschaftler entdecken. Manche Untersuchungen legten nahe, dass Entzündungsprozesse im Darm der Auslöser seien könnten, andere wiederum belegten das Gegenteil. Es gibt Studien, die die Glutensensitivität als leichtere Form der Zöliakie entlarven und Ergebnisse, die genau das zu widerlegen scheinen. In der Regel finden sich auch keine Untersuchungs- oder Laborparameter wie die für eine Allergie oder Zöliakie typischen Antikörper, die helfen könnten, den Glutensensitiven vom Nicht-Sensitiven zu unterscheiden. "Eine Glutensensitivität bleibt eine reine Ausschlussdiagnose", sagt der Freisinger Forscher Peter Köhler. "Ich schließe aus, dass es eine Allergie ist, ich schließe aus, dass es eine Zöliakie ist - wer dann noch übrig bleibt, der ist eben glutensensitiv."

Erschwerend kommt der Faktor Psyche hinzu. "Der Placeboeffekt ist bei solchen Reizdarmpatienten enorm", sagt der Gastroenterologe Reiner Ullrich von der Berliner Uniklinik Charité. "Manche Studien zeigen: Wenn man Menschen, die unter glutenfreier Diät beschwerdefrei wurden, anschließend angeblich glutenhaltige tatsächlich aber glutenfreie Testnahrung gibt, bekommt die Hälfte von ihnen trotzdem Beschwerden." Sprich: In einer Vielzahl der Fälle könnte das zugrunde liegende Problem eher im Kopf als auf dem Teller der Patienten zu finden sein. Auch US-Gesundheitsbehörde FDA geht deshalb inzwischen davon aus, dass nicht jeder fünfte, sondern höchstens jeder zweihundertste Amerikaner an einer echten Sensitivität leidet - in Europa scheinen die Werte ähnlich niedrig.


Kommentar: Das nennt man Schadenskontrolle um Gluten einfach zu verharmlosen. Gluten wirkt wie eine Droge und betäubt den Verstand und macht abhängig.


Inzwischen deutet sich sogar an, dass das Gluten möglicherweise sogar zu Unrecht verdächtigt wird. So legte Jessica Biesiekierski, die dem Beschwerdebild einst zu seinem wissenschaftlichen Durchbruch verholfen hat, im vergangenen Jahr eine Studie vor, die alles auf den Kopf zu stellen scheint. Sie machte sich in ihrer Untersuchung die Mühe, alle anderen Faktoren, die Darmbeschwerden verursachen könnten, auszuschalten. Sie gab ihren 37 Versuchspersonen nicht nur glutenfreie Kost, sondern auch weniger vom Darm schlecht resorbierbare und blähende Kohlenhydrate, sogenannte Fodmaps, weniger Milchprodukte und Lebensmittelchemikalien und achtete auf Kalorien- und Ballaststoffzufuhr. Das Ergebnis: Egal, ob sie nach der Diät heimlich mit glutenreicher oder aber glutenarmer oder glutenfreier Kost gefüttert wurden - den angeblich glutensensitiven Patienten ging es immer gleich schlecht. Ein glutensensitiver Effekt sei nicht zu messen gewesen, so das Ergebnis der Autoren.


Eine mögliche Erklärung hat Detlef Schuppan zur Hand. Der Gastroenterologe und Immunologe von der Uniklinik Mainz geht davon aus, dass nicht das Gluten hinter der Krankheit steckt, sondern ein anderer Getreideinhaltsstoff, die sogenannten Alpha-Amylase/Trypsin-Inhibitoren, kurz ATIs. Verdauungsenzymbremsen, mit denen sich die Pflanzen eigentlich vor Insektenfraß schützen. Weil man in den vergangenen Jahrhunderten bei der Zucht auf besonders standhafte Pflanzen geachtet habe, so die Theorie des Experten, habe der ATI-Gehalt gerade im Weizen besonders zugenommen - im Gegensatz übrigens zum Glutengehalt. "Im menschlichen Körper wirken diese Verbindungen als eine Art Immunstimulatoren", so der Professor für Molekulare und Translationale Medizin. Indem sie den Teil des menschlichen Abwehrsystems anregen, der noch recht ungezielt, aber besonders schnell auf fremde Eindringlinge reagiert, drücken sie auch bei vielen anderen immunologischen Prozessen aufs Gaspedal - zum Beispiel indem sie eine schwache Lebensmittelunverträglichkeit in eine starke Darmreaktion umwandeln.


Kommentar: Alpha-Amylase/Trypsin-Inhibitoren sind dann dennoch in Gluten zusätzlich enthalten und ein weitere Grund darauf zu verzichten.


Der Zürcher Vavricka wiederum vermutet, dass die Glutensensitiven gar nicht so sehr auf das Eiweiß selbst empfindlich reagieren, sondern allgemein Probleme mit blähenden Substanzen haben. Und zu denen gehören nicht nur Fodmaps und Ballaststoffe, sondern auch das Weizenprotein. "Wahrscheinlich werden wir in zehn Jahren diese Krankheit nicht mehr Glutensensitivität nennen, sondern als generelle Nahrungsmittelunverträglichkeit auf blähende Substanzen bezeichnen." Noch bleiben all das Theorien, aber neue Patientenstudien sollen bald für mehr Klarheit sorgen.

Bis deren Ergebnisse vorliegen, steht bislang nur eines wirklich fest: Ein Jungbrunnen für Körper, Geist und Seele ist die glutenfreie Diät in jedem Fall nicht. "Das ist bloß eine Modeerscheinung, die aus den angelsächsischen Ländern zu uns herüberschwappt", sagt der Berliner Reiner Ullrich. "Wissenschaftliche Belege für einen Nutzen bei Gesunden gibt es keinen einzigen."


Kommentar: Noch einmal wird Schadenskontrolle betrieben, um Gluten als harmlos zu verkaufen. Zudem ist Reiner Ullrich sehr ignorant gegen viele Studien, die eben genau das Gegenteil zeigen:

Neue Studie: Weizen als Ursache für Autismus, Verhaltensstörungen und Immunreaktionen
Gluten führt zu neurologischen Schäden - Patientenfall verdeutlicht die extremen Ausmaße der möglichen Symptome
Gluten, eine Substanz die jeden betrifft



Was gemieden werden muss

Ein Zöliakiepatient hat keine andere Wahl. Weil selbst kleinste Glutenmengen seinen Darm wieder in Aufruhr versetzen können, muss er das Klebeeiweiß radikal meiden. Alle Lebensmittel, die Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Grünkern und Dinkel sowie verwandte Getreidearten und Urkorn-Arten wie Khorasan-Weizen und Einkorn enthalten, muss er meiden. Backwaren wie Brot und Kuchen oder Teigwaren wie Nudeln und Spätzle kommen für ihn nicht in Frage, Pizza, Bier und sogar manche Zahnpasta sind für ihn tabu. Natürlich könne auch ein Gesunder durch eine solche bewusstere Ernährung Kalorien sparen, sagt Peter Köhler von der Deutschen Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie, da glutenhaltige Produkte meist auch mehr Kohlenhydrate enthalten. "Aber dasselbe kann man auf eine viel billigere und angenehmere Art durch eine ausgewogene Ernährung erreichen."