Merkel
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Liebe Angela Merkel:

Ich gebe gern zu, dass ich der Debatte um die NSA-Affäre nicht bis in die letzte Spiralwindung folgen wollte. Seit zwei Jahren werden immer neue Details über den Kontrollwahnsinn westlicher Geheimdienste bekannt. Und selbst für leidenschaftliche Idealisten war es in dieser Zeit allzu leicht, die Hoffnung zu verlieren, dass irgendwann noch einmal Licht in die klebrige Finsternis der Schlapphut-Welt kommt.

In den USA interessiert die deutsche Aufregung um dieses Thema fast niemanden. Dementsprechend aussichtslos schien es, öffentlichen Druck auf die Entscheidungsträger aufzubauen. Sie als Bundeskanzlerin leugneten Ihrerseits nach besten Kräften jedes Mitwissen.

Und eine Verfassungsklage gegen das Treiben der westlichen Geheimdienste in Deutschland ist bis heute ein unrealistisches Unterfangen, weil man dafür in einem konkreten Fall bis ins Detail nachweisen müsste, dass ein deutscher Staatsbürger in seinen Freiheitsrechten bedroht ist. Leider liegt es in der Natur der Geheimdienste, dass ihr Treiben unsichtbar bleibt. Mit der Klassifizierung der nötigen Dokumente deckt der Staat den Verfassungsbruch per Systemdefinition.

Jetzt wird die Affäre greifbar


Der Gedanke, an den ich mich lange Zeit geklammert habe, war der, dass eines Tages eine direkte Linie zu den politisch Verantwortlichen erkennbar wird. Dass jede Ausrede zwecklos wird und die Versteckspielchen ein Ende haben.

Genau dieser Punkt könnte bald erreicht sein.

Wir wissen nun, dass der Bundesnachrichtendienst der NSA dabei geholfen haben soll, die französische Regierung und die EU-Kommission auszuspionieren. Diese Erkenntnisse eröffnen einen neuen Blick auf den paranoiden Wahnsinn, den sich NSA und BND offenbar seit Jahren hingeben.

Nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, "WDR“ und „NDR“ sollen amerikanische Geheimdienstmitarbeiter BND-Abhöranlagen im bayerischen Bad Aibling jahrelang für ihre Zwecke missbraucht haben. Vereinzelt soll es dabei auch zu Fällen von Wirtschaftsspionage gekommen sein. Angeblich ist dies bis 2013 niemanden aufgefallen, bis ein Unterabteilungsleiter der Technischen Aufklärung der Sache auf die Spur gekommen ist. Offenbar jedoch wurde dies bis März dieses Jahres weder der BND-Spitze noch dem Kanzleramt gemeldet.

Das Kanzleramt, ein Tollhaus?


Es stellt sich nun die Frage, ob das Bundeskanzleramt (wo die Geheimdienstarbeit eigentlich koordiniert werden sollte) ein staatlich bezahltes Tollhaus ist, in dem niemand mehr weiß, was die völlig außer Kontrolle geratenen Sicherheitsorgane eigentlich so treiben. Wie sich marodierende BND-Beamte an die großen Vorbilder aus Amerika anbiedern, was sie dabei alles unter den Teppich kehren. Und das wäre noch die schmeichelhaftere Erklärung.

FDP-Chef Christian Lindner merkte im Gespräch mit der dpa völlig zurecht an: "Offenbar ist nichts und niemand vor dem Bundesnachrichtendienst sicher." Und man muss sich schon wundern, wenn der grüne Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss, Konstantin von Notz, anmerkt, dass der Irrsinn bereits seit 2005 System hat. Ohne, dass dem Bundestag darüber bisher verwertbare Informationen vorlägen und er seiner Aufgabe hätte nachgehen können, den BND zu kontrollieren.

Eine ganze Reihe von Politikern steht damit im Verdacht, die deutsche Bevölkerung und letztlich auch halb Europa hinter die Fichte geführt zu haben. Allen voran die Minister Thomas de Maizière (CDU), Ronald Pofalla (CDU)und Peter Altmaier (CDU), aber auch die Geheimdienstkoordinatoren Klaus-Dieter Fritsche (CSU) und Günter Heiß (CDU).

De Maizière soll schon 2008 davon gewusst haben, "dass die US-Seite versucht, die Erfassung auf Bereiche auszudehnen, die nicht im gemeinsamen Interesse liegen". Ronald Pofalla soll nach seinem Amtsantritt im Jahr 2009 nähere Details genannt bekommen haben. Was er genau wusste, ist derzeit nicht bekannt.

Regierung hat offenbar den Bundestag belogen


Auf eine Anfrage der Linken antwortete die Bundesregierung noch im vergangenen Jahr, dass es keine Erkenntnisse über mögliche Versuche von Wirtschaftsspionage von amerikanischen Geheimdiensten innerhalb der EU gäbe. Wenigstens diese Aussage dürfte mittlerweile als glatte Lüge gegenüber dem Bundestag entlarvt sein.

Sollte das stimmen, wäre es mit einer einfachen Entschuldigung nicht getan. Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele sprach am Mittwoch in der Talksendung von Anne Will das aus, was viele Bundesbürger angesichts der immer abenteuerlicher werdenden Ausflüchte denken: Das Vertrauen in die Bundesregierung ist verloren gegangen.

Insbesondere in den amtierenden Innenminister Thomas de Maizière, der schon als Verteidigungsminister den Überblick über die Waffengeschäfte seines Ministeriums verloren hatte. Sein Rücktritt ist überfällig, weil sein Schweigen eine Beleidigung an den politischen Verstand der Wähler ist.

Aber es geht nicht nur um personelle Konsequenzen, Frau Merkel. Denn ein Ministerrücktritt würde kaum dabei helfen, das systemische Versagen im deutschen Geheimdienstapparat abzustellen.

Wann kommt endlich der Moment, in dem Sie klar Stellung beziehen zu den Abwegen, auf denen sich deutsche Geheimdienste befinden? Es steht viel auf dem Spiel.

Denn jeder weiterer Tag, an dem immer neue unglaubliche Details über den BND und das Treiben der NSA in Deutschland publik werden, schadet dem Ansehen der Politik in diesem Land. Laut Umfragen haben ein Viertel aller Deutschen den Glauben an die Demokratie verloren. Und das ist auch Ergebnis Ihrer Politik, die sich in Sachen NSA-Affäre darauf beschränkt, die Wahrheit nur scheibchenweise zuzugeben.

In den vergangenen Jahren haben Verschwörungstheoretiker enormen Zulauf bekommen. Die KenFMs dieser Republik sind der Meinung, dass deutsche Politik vor allem in den USA gemacht würde. Es wäre eine Katastrophe, wenn dieser Irrglaube durch eine Strategie der Volksverdummung weiter bestärkt würde.

Am einfachsten gräbt man solchen Leuten durch Transparenz das Wasser ab. Und jetzt sind Sie dran.