Seit fast dreißig Jahren gab es in Spanien keine Infektion mehr, jetzt ist ein ungeimpfter Sechsjähriger erkrankt. Der Fall löst eine Debatte aus über die Frage, wie der Staat mit Impfgegnern umgehen soll.

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Die katalanische Regionalregierung will die Eltern nicht zu Sündenböcken machen. „Hier gibt es zwei Opfer“, sagt der Sekretär für Öffentliche Gesundheit, Antoni Mateu, „den Jungen und die Eltern.“ Der Junge ist sechs Jahre alt und liegt seit gut einer Woche auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Barcelona, „in sehr kritischem Zustand“, berichtet das regionale Gesundheitsministerium. Die Diagnose: Diphtherie. Die Eltern hatten ihn nicht impfen lassen. „Sie sind am Boden zerstört“, sagt Gesundheitssekretär Mateu. „Sie fühlen sich betrogen und falsch informiert. Sie haben ein tiefes Schuldgefühl, das wir ihnen zu nehmen versuchen.“

Der Fall des kleinen Jungen aus dem nordkatalanischen Städtchen Olot macht seit Tagen Schlagzeilen in Spanien. Es ist der erste Fall von Diphtherie seit 1987 in Spanien. Wie in Deutschland steht die Diphtherieimpfung auf dem Impfkalender aller spanischen Regionen für Kleinkinder im Alter von zwei, vier, sechs und fünfzehn bis achtzehn Monaten; mit 13 oder 14 Jahren ist eine Auffrischung empfohlen. Doch wie in Deutschland gibt es auch in Spanien keine Impfpflicht. Die Eltern des erkrankten Jungen glaubten, dass eine Impfung mehr Schaden als Nutzen stifte. Nun beginnt in Spanien eine Debatte darüber, wie mit den Impfgegnern umzugehen ist.


"Keine Argumente, sondern Ausreden"

Bisher wurde diese Debatte eher leise geführt. Die Impfraten in Spanien sind hoch, zwischen 90 und 95 Prozent, und die Impfmuffel wurden vornehmlich an den sozialen Rändern der Gesellschaft vermutet, nicht in gebildeten Schichten, die sich aus ideologischen Gründen der Impfung ihrer Kinder verweigerten. Zu dieser Gruppe gehören nun aber offensichtlich die Eltern aus Olot. Solche Eltern seien „sehr informiert, aber falsch informiert“, sagt der Kinderarzt und Buchautor Carlos González. „Sie haben keine Argumente, sondern Ausreden.“ Das sehen die Impfkritiker naturgemäß anders. Die Liga für die Impffreiheit, in der sich die spanischen Impfgegner organisiert haben, wünscht dem erkrankten Jungen aus Olot gute Besserung und den Eltern Zuversicht, bleibt aber in der Sache eisern.

Dass es in Spanien seit fast drei Jahrzehnten keine Diphtheriefälle mehr gegeben habe, liege nicht etwa an den Massenimpfungen seit den 1960er Jahren, sondern an den „Lebensbedingungen im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts“. Die Liga fordert alle Eltern auf, wie bisher „frei und informiert ihr Recht zu entscheiden wahrzunehmen“. Auf Freiheit und Information will auch das spanische Gesundheitswesen weiter setzen. Weder Politiker noch Fachleute, die sich in den vergangenen Tagen zu Wort gemeldet haben, fordern eine Rückkehr zur Impfpflicht, wie sie bis 1986 galt.

Die Tageszeitung El País zitiert einen Kinderarzt aus dem nordspanischen Asturien, Francisco Álvarez, der auf Überzeugungsarbeit vertraut: „Unter meinen 700 Patienten gab es nur eine Person, die sich weigerte. Ich habe viel mit ihr gesprochen. Ich habe drei Jahre gebraucht, um das Kind zu impfen, aber am Ende habe ich es gegen alles geimpft.“ Einen solch hartnäckigen Kinderarzt gab es offenbar im Fall des Sechsjährigen aus Olot nicht. Die Diphtherie ist eine bakterielle Erkrankung, die zumeist den Rachen und die oberen Atemwege befällt, anschließend aber auch andere Organe in Mitleidenschaft ziehen kann.

Bei dem infizierten spanischen Jungen sind Nieren, Lungen und Herz betroffen. Für die nötige Behandlung stand in Spanien, nach 28 Jahren ohne Diphtheriefälle, kein geeignetes Antitoxin mehr zur Verfügung. Das Medikament kam schließlich aus Russland, wo es in den 1990er Jahren eine Diphtherieepidemie gegeben hatte. In Deutschland werden noch vereinzelte Infektionsfälle gemeldet, nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts erkrankten hier 2013 vier Menschen. Etwa jede zehnte Diphtherieinfektion verläuft tödlich.

Die Ärzte im Krankenhaus von Barcelona tun ihr Bestes, um den Jungen zu retten. Wo er sich angesteckt hat, weiß keiner. Seit Montag ist bekannt, dass auch acht Schulkameraden infiziert sind. Keiner von ihnen hat Symptome. Denn sie waren alle geimpft.