In Neubrandenburg hat der Prozess gegen einen früheren SS-Sanitäter aus Auschwitz begonnen. Ob die Verhandlung weitergehen kann, ist unklar - das Gericht scheint kein großes Interesse daran zu haben.
SS-Sanitäter Ausschwitz vor Gericht in Neubrandenburg
© DPAAngeklagter Hubert Z.
Kaum jemals zuvor hat die Justiz in Gestalt eines Gerichts und seines Vorsitzenden ein derart unwürdiges Schauspiel abgegeben wie das Landgericht Neubrandenburg, das sich seit Monaten dagegen sträubt, das Strafverfahren wegen Beihilfe zum Mord in 3681 Fällen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gegen den 95 Jahre alten Hubert Z. zu führen.

Das Gericht, so scheint es, fühlt sich eher der Tradition der Nachkriegszeit verpflichtet, ehemalige SS-Männer, die in den Vernichtungslagern der Nazis Dienst getan hatten, in Ruhe zu lassen, so lange ihnen nicht mit eigener Hand begangene Morde nachzuweisen sind.

Die Staatsanwaltschaft Schwerin wirft Z. vor, als Angehöriger der SS-Sanitätsstaffel im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau vom 15. August bis zum 14. September 1944 "das arbeitsteilige Lagergeschehen unterstützt zu haben, wobei ihm spätestens seit Oktober 1943 der industrielle Anlauf der Massentötungen, deren Hintergründe und deren Zielrichtung bekannt waren", wie es in der Anklageschrift heißt.

Z. habe gewusst, dass er durch seine Tätigkeiten die auf Arbeitsteilung beruhende Vernichtung der Häftlinge förderte. Denn Birkenau war das Vernichtungslager des Komplexes Auschwitz, wo insgesamt 1,1 Millionen Menschen starben. "Die Flammen, die aus den Schornsteinen der Krematorien schlugen, die Aschewolken und der Geruch verbrannten Fleisches nahm der Angeschuldigte im Rahmen seiner Tätigkeit ebenso wahr wie die Tatsache, dass direkt neben dem Frauenlager eine neue Rampe für ankommende Deportationszüge gebaut wurde", so die Anklage.

Vor dem Gerichtsgebäude in Neubrandenburg erinnern Plakate und Fotos an die Hölle von Auschwitz und an Anne Frank. Sie war mit ihrer Schwester in einem der Transporte, die während Z.s Anwesenheit zum KZ rollten. Auschwitz überlebten die beiden Mädchen noch. Umgebracht wurden sie erst ein Jahr später, 1945, im KZ Bergen-Belsen.

Z. ist Jahrgang 1920. Er sitzt im Rollstuhl und kann sich allenfalls ein paar Schritte mit Hilfe eines Stocks fortbewegen. Auch hört er schlecht. Doch immerhin lebt er noch zu Hause in einem mecklenburgischen Dorf und kommt in seinem Alltag dank einiger familiärer Hilfe selbstständig zurecht. Als nun endlich der erste Verhandlungstag stattfinden konnte, wurde er von dreien seiner vier Söhne begleitet, denen der Unmut über den Prozess ins Gesicht geschrieben stand. Aber sie sind Angehörige und dürfen Partei sein - anders als das Gericht.

Die Fronten sind klar definiert

Die Fronten im Gerichtssaal sind klar definiert: Hier der Angeklagte, unterstützt von drei Anwälten; voran Peter-Michael Diestel, ehedem letzter Innenminister der DDR, der den Vorsitzenden Klaus Kabisch auf seiner Seite weiß. Gegenüber eine wehrhafte Staatsanwaltschaft vor allem in Gestalt von Oberstaatsanwalt Hans Förster sowie die Vertreter von Holocaust-Überlebenden als Nebenkläger.

Kabisch ließ nicht nur in der Vergangenheit in ungewöhnlicher Offenheit erkennen, was er von einem Prozess gegen Z. hält: nichts. Er wollte die Anklage nicht zulassen und verhindern, dass der 87-jährige Holocaust-Überlebende Walter Plywaski und dessen Anwalt Thomas Walther als Nebenkläger zugelassen werden. Hätten nicht Staatsanwaltschaft und auch weitere Vertreter von Auschwitz-Überlebenden mehrfach das Oberlandesgericht Rostock um Hilfe angerufen - mit Z. wäre wohl so verfahren worden wie mit den unzähligen SS-Tätern in der Vergangenheit, die davonkamen, weil Ermittlungsverfahren eingestellt oder gar nicht geführt wurden. In dieser unseligen Tradition scheint Richter Kabisch zu stehen.

War es Zufall oder doch Methode, wie dieser Vorsitzende nun zunächst zu verhindern versuchte, dass Staatsanwaltschaft und Nebenklage Anträge wegen Besorgnis der Befangenheit gegen ihn stellen konnten? Nach Anklageverlesung wollte er sich erst mit der Frage nach der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten beschäftigen, hatte er doch in den zahlreichen Gutachten, die inzwischen dazu erstellt wurden, unterschiedliche Einschätzungen bemerkt.

Zählte der dazu geladene Psychiater Stefan Teipel aus Rostock auf, was Z. noch kann, wollte Kabisch beim Lesen "zwischen den Zeilen" herausgehört haben, was Z. alles nicht mehr kann. Mündlich vorgetragen wurde das Gutachten nicht. Was Teipel im Detail festgestellt hatte, erfuhren die Schöffen und die Zuhörer nicht. Nur die Punkte, die Kabisch fraglich erschienen, kamen zur Sprache. Und die zielten allesamt in Richtung Verhandlungsunfähigkeit.

Je länger über eine beginnende oder schon bestehende Demenz des Angeklagten gestritten wurde, umso manifester erschien sie. Als Kabisch schließlich von einer Katze sprach, die Z. bisweilen zu füttern vergesse, und der Angeklagte seinen Verteidiger fragte, ob er wegen dieses Verbrechens vor Gericht stehe, was dieser sofort dem Gericht meldete, drohte die Sitzung vollends ins Absurde abzugleiten. Ein abgekartetes Spiel? Als dann auch noch ein angeblich "entgleister Blutdruck" den Angeklagten vor einem Prozess bewahren sollte, musste Richter Kabisch passen. Werte von 120/80 seien bei einem fast 96-Jährigen eher die Norm als eine bedrohliche Ausnahme, so der Sachverständige.

So verging die Zeit mit Beanstandungen und Gerichtsbeschlüssen. Z. schien zunehmend zu ermüden. Die Staatsanwaltschaft drang darauf, endlich ihr Ablehnungsgesuch stellen zu dürfen. Die Nebenklageanwälte ebenfalls. Der Vorsitzende aber schien Gefallen an diesem Machtspiel zu finden, denn qua Amtes war er stets im Vorteil.

"Bei mir ist jetzt Sense"

Nebenklageanwalt Walther, der schon in den Verfahren gegen John Demjanjuk (München), Oswald Gröning (Lüneburg) und Reinhold Hanning (Detmold) neben seinem Kollegen Cornelius Nestler die Interessen zahlreicher Auschwitz-Überlebender vertreten hatte, warf Kabisch vor, seinem Mandanten Plywaski "die Rechte verweigert zu haben", die diesem vom Gesetz zustünden. Kabisch hatte eine Informationsreise des Anwalts in die USA zu seinem Mandanten abgelehnt, da dieser "ohne weiteres" auch per Videokonferenz kommunizieren könne. "Der hierfür zu betreibende Aufwand ist nach den Erfahrungen der Kammer gering", schrieb Kabisch. Weiß dieses Gericht, wie schwierig und aufwendig der Umgang mit jenen gebrochenen Menschen ist, die durch die Hölle von Auschwitz gegangen sind?

Vielleicht ist es nur böser Schein, der trügt. Aber wenn ein Richter sich zum Angeklagten nach Hause begibt, um sich angeblich selbst ein Bild von dessen Zustand zu machen, wie Richter Kabisch es getan hat, und dies just zu der Zeit, als ein Psychiater dort die Verhandlungsfähigkeit prüft, dann hat dies einen unguten Beigeschmack. Noch dazu, wenn er darüber keinen Vermerk fertigt und sich bis heute weigert, sich zu erklären.

Oberstaatsanwalt Förster sprach in seinem Ablehnungsantrag gegen Kabisch aus, was so mancher im Saal dachte: "Der Vorsitzende Kabisch offenbart seine innere Haltung, indem er auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Jahr 1969 verweist. Damals wurde der Freispruch des Zahnarztes Willi Schatz bestätigt, der im großen Auschwitz-Prozess in Frankfurt angeklagt war." Mittlerweile ist bekannt, dass alle SS-Ärzte, auch Zahnärzte in Auschwitz, Rampen- und Gaskammer-Dienst zu verrichten hatten. Zahnärztliche Behandlung, so der BGH damals, sei keine Beihilfehandlung gewesen. "Dabei hatte Schatz das Herausbrechen der Goldzähne überwacht", sagte Förster.

Wie und ob es mit dem Prozess weitergeht, ist derzeit völlig unklar. Das Gericht hatte schon beim ersten Versuch, gegen Z. zu verhandeln, nur drei Verhandlungstage angesetzt und keine Zeugen geladen. Auch jetzt gibt es keine Planung für weitere Sitzungstage. "Bei mir ist jetzt Sense", sagte Z. und ließ sich aus dem Saal schieben.