Eisberge treiben vor Grönland. Im großen Drama der Ungewissheit um das Weltklima erweist sich der Eisschild über Grönland als leicht verwundbare Stelle, als eine Achillesferse des Planeten.
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Jeden Tag paddelten ein paar Leute durch den Fjord. Das tun sie sonst, um zu fischen oder zu jagen. Im Sommer vor ein paar Jahren taten sie es wegen eines Eisbergs. Ein ungewöhnlich großer war in den Fjord vor dem ostgrönländischen Dorf Tasiilaq getrieben. Oben auf dem Eisberg hatte sich eine Mulde gebildet. Man konnte gleiten, rutschen und lachen - bis die Mittagssonne das Eis taute. Der Eisberg war ein paar Wochen lang Funpark des Dorfs, in dem das Leben vor allem Überleben ist.

Freilich können sie auch anders, die Eisberge. Etwa jener berühmteste von allen, den die Titanic rammte. Ein paar Tage nach dem Unglück wurde er gefunden. Durch Lackspuren am Eis wurde er überführt. Seither bekommen nicht mehr alle Eisberge die Chance, zischend und sprudelnd zu schmelzen, wenn sich warmes Wasser in sie frisst. Freie Fahrt für schwere Schiffe wird mit Dynamit ermöglicht. Unheimlich ist den Schiffern vor allem der uneinschätzbare Tiefgang der Kolosse.

Die Annäherung der Inuit an den Riesen in Tasiilaq ist erstaunlich, weil die Ureinwohner der arktischen Region natürlich großen Respekt haben. In alten Geschichten ist die Rede davon, wie sie Eisberge vorsichtig umschifften, jede Annäherung vermieden, geräuschlos vorbeiglitten. Sie wissen: Wenn ein Eisberg zornig wird, wird es gefährlich. Abbrechende Eiswände können Flutwellen auslösen, in denen Kajaks zum Spielball des Meeres werden.

Tidenhub, Strömungen und starker Wellengang nach Stürmen bewegen die glänzenden Riesen. Ihr Treiben wird von Glaziologen und Meeresforschern akribisch untersucht. Und doch bleiben Herkunft und Wege oft ein Rätsel.

Klar ist: Die Zahl der Eisberge im Nordatlantik nimmt zu, es bröckeln immer mehr ins Meer. Auf Grönland ist der Gletscher von Ilulissat im Westen Rekordhalter. Rund 1500 Eisberge kalbt er im Jahr, etwa 35 Milliarden Tonnen.

Vergleichbar sind die Gründe für die wachsende Zahl der Eisberge mit der Zunahme von Geröllabgängen und Bodenerosion in den Alpen. Böden sind durch die Veränderung der Temperatur oder bei Niederschlag immer stärkeren Kräften ausgesetzt. Der Boden, aus dem die Eisberge Grönlands wachsen, sind die Gletscher, die vom Inlandeisschild an die Küste reichen. Als Grund für deren massive Veränderung gilt die Erwärmung des Klimas.

Man begegne bei der Erforschung von klimatologischen Entwicklungen auf Grönland einem "delikaten System von in sich verschränkten Kräften", sagt Tavi Murray. Sie leitet das Projekt Glimpse (Greenland Ice Margin Prediction, Stability and Evolution) an der Universität Swansea in Wales. In den vergangenen fünf Jahren wurde untersucht, wie sich der Eisschild Grönlands an seinem Rand verändert.

Der Eisschild (das Eis über einer Landfläche von mindestens 50.000 km2; neben Grönland fällt auf der Erde noch die Antarktis in diese Kategorie) bedeckt etwa 82 Prozent der Insel, 1,7 Mill. km2 sind das. Da passt Österreich rund 20 Mal darunter.

Im September vergangenen Jahres beobachtetet das Team von Glimpse in Ostgrönland die beiden Gletscher Manisilertarpia (Helheim-Gletscher) und Kangerlussuaq. Das Glück des Zufalles reiste mit. Beobachtet wurde am Manisilertarpia der Abbruch einer riesigen Gletschermasse. Vier Kilometer lang, 800 Meter breit und 300 Meter hoch war das Ungetüm. An der Grenze, wo die Gletscher kalben, wo Eisberge geboren werden, lässt sich eine Verschiebung feststellen.

Das Verhältnis zwischen abbrechenden Gletschern und dem Schnee, der an der Oberfläche der Gletscher vereist, verändert sich. Es wächst im Hinterland weniger Eis nach, als vorn abbricht. Damit erleben die Gletscher auf Grönland den gleichen Schwund wie in den Alpen. Allerdings ist der Zustand Grönlands und der Arktis für die makroklimatischen Bedingungen der Erde weit nachhaltiger. Grönland, der Amazonasregenwald und auch Waldflächen in Kanada und Sibirien sind "Kippelemente". Timothy Lenton von der Universität Exeter, einer der Spezialisten auf diesem Gebiet, sagt, dass diese Bestandteile des Erdsystems von überregionaler Größe "schon durch kleine externe Störungen in einen neuen Zustand versetzt werden können".

Stellenweise verliert der drei Kilometer starke Eisschild an Höhe. "Wo die Oberfläche bislang in höheren und damit kälteren Luftschichten war, befindet sie sich jetzt teils in niedrigeren und damit wärmeren Luftschichten", sagt Lenton. Das verstärkt das Abschmelzen. Da geht es um Millimeter oder ein paar Zentimeter pro Jahr. "Die Kräfte, die in und auf Grönland wirken, sind nicht so leicht sichtbar, haben aber dramatische Folgen." Der brutale Abbruch eines Gletschers ist ein Indiz dafür. Die Zerbrechlichkeit des Systems ist aber nur bei feiner Beobachtung zu erkennen. Etwa bei Messungen des Schmelzwassers, das wegen steigender Temperaturen nicht mehr zu Gletschereis gefriert.

Einblicke in die Erdgeschichte - durch Eisbohrungen - zeigen, dass der Eispanzer über Grönland die letzte Warmzeit vor etwa 120.000 Jahren überlebt hat. Der sogenannte Kipppunkt, ab dem der Eisschild unwiderruflich kollabiert, sei kaum zu erreichen, meint Jonathan Bamber von der Universität Bristol. Andere Studien gehen davon aus, dass dieser Kipppunkt schon bei einer globalen Erwärmung von knapp zwei Grad erreicht werden könnte, auf die man sich schon zubewege. Der Eisschild jedenfalls taut immer schneller. Von 2000 bis 2008 stieg der Meeresspiegel um rund 0,5 Millimeter. Danach bis 2010 um 0,74 Millimeter pro Jahr. Werden alle 2,85 Mill. Kubikkilometer Eis und Schnee zu Wasser, steigt der Meeresspiegel weltweit um etwa 7,2 Meter. Dann wird viel untergehen. Nur Grönland nicht: Wenn die Last des Eises verschwände, würde die Insel um ein paar Hundert Meter in die Höhe wachsen.

Grönland ist eine Achillesferse der Erde, eine ihrer schnell und irreparabel verwundbaren Stellen. Doch die Insel wehrt sich gegen endgültige Ansichten und Prognosen. Zu riesig, also unberechenbar, zu abhängig von den Launen der Natur ist sie, als dass sich eindeutige Modelle für die Zukunft erstellen lassen. Klar ist nur, es taut.

Die Geschichte vom Eislauf-Eisberg erzählen die Bewohner in Tasiilaq womöglich deshalb so gern, weil sich in ihr die rohe Kraft der Natur spiegelt, der die Menschen unterworfen sind. Nur die erstaunten Blicke der Zuhörer werden sie nie verstehen. Ja sicher, groß war er schon, sagen sie. Aber es war halt auch nur einer der Eisberge - und mit einem Blick in die Ferne, wo eine Bergkette den Blick auf das offene Meer verstellt, sagen sie, dass immer noch viel größere "irgendwo da draußen" seien.