Am letzten Tag jedes Monats stehen Hunderttausende Amerikaner nachts Schlange für Lebensmittel. Ab Mitternacht gelten die neuen Essensmarken. Noch nie waren so viele US-Bürger auf sie angewiesen.
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© Kai Nedden
Langsam setzt sich die Schlange vor den Einkaufskassen in dem Wal-Mart in North Bergen im amerikanischen Bundesstaat New Jersey in Bewegung. Viele Kunden gähnen gelangweilt, Jessica Morsch wird wenigstens von ihrem dreijährigen Sohn abgelenkt, der trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit quietschfidel ist.

Die 21-Jährige ist an diesem Abend wie so viele andere aus der Nachbarschaft kurz vor Mitternacht zum Shoppen gefahren. Ihr Einkaufswagen ist so voll gepackt, dass die Lebensmittel fast herausfallen: ein Riesen-Sack Reis liegt darin, Brot, Wasserflaschen, Aufschnitt, etwas Gemüse, Babynahrung.

"Ich muss genau auf die Preise achten", sagt Morsch. "Luxusartikel kommen für mich mit meinen monatlich 500 Dollar Essensmarken für drei Personen nicht infrage."

Immer am letzten Tag eines Monats gibt es in vielen Supermärkten Amerikas ein trauriges Schauspiel. Wal-Mart etwa macht dann noch mehr Umsatz als sonst. "Wenn man sich überlegt, warum Menschen mitten in der Nacht an diesem speziellen Tag in unsere Supermärkte gehen, kann es dafür nur eine Erklärung geben", sagt Wal-Mart-Chef William Simon. "Sie haben Hunger."

Um Punkt Mitternacht, wenn der nächste Monat beginnt, lassen sich die neuen "food stamps" einlösen. "Food stamps" ist noch heute der gebräuchliche Begriff, tatsächlich allerdings bekommen die Bedürftigen längst nicht mehr Gutscheine aus Papier - sondern Plastikkarten, die mit dem Monatswechsel automatisch aufgeladen werden.

Jeder Siebte braucht staatliche Unterstützung

Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Zahl der Amerikaner, die solche Karten im Portemonnaie tragen, in die Höhe geschossen. Im März bezogen 46,4 Millionen Bürger Essensmarken - 70 Prozent mehr als vor Ausbruch der Finanzkrise.

Inzwischen ist jeder siebte Amerikaner beim Einkauf von Lebensmitteln auf staatliche Unterstützung angewiesen - ein neuer Rekord. Und der Bedarf soll noch viel höher liegen; denn viele Menschen stellen aus Scham oder Unwissenheit keinen Antrag.

Mit dem rasanten Anstieg der Armut sind auch die Kosten von SNAP - so wird das Essensmarken-Programm offiziell bezeichnet - stark gestiegen. Die Republikaner wollen der Kostenexplosion nun ein Ende bereiten - und die Ausgaben für das Programm deutlich kürzen.

Demokraten und Sozialverbände laufen dagegen Sturm: "Damit lassen die Republikaner sehenden Auges Millionen Amerikaner hungern", schäumt Joel Berg, Chef der "New Yorker Koalition gegen Hunger", die Suppenküchen und Ausgabestellen für Lebensmittel in der Millionen-Metropole koordiniert.

Jessica Morsch hat ihre elektronische Chipkarte durch die Kasse gezogen, gut die Hälfe ihres Guthabens ist bereits mit diesem ersten Einkauf aufgezehrt. Wenn die Essensmarken, wie immer, binnen zwei Wochen aufgebraucht sind, werden die Eltern der jungen Frau für den Rest des Monats über die Runden helfen.

"Das ist mir zwar unangenehm, aber derzeit haben wir keine Wahl", sagt die Biologiestudentin. "Niemand muss hier verhungern, wir sind nicht Äthiopien", sagt Joel Berg. "Aber die Situation ist dramatisch. Nur in der Großen Depression in den 30er-Jahren ging es den Menschen in diesem Land dreckiger."

Vor drei Jahrzehnten gab es keine zwei Dutzend Einrichtungen für die Armen New Yorks, heute existieren mehr als 1100 Suppenküchen und Speisekammern in der Stadt. 1,9 Millionen New Yorker beziehen Essensmarken, in über drei Millionen Haushalten soll die Lebensmittelversorgung "unsicher" sein.

Hunger kostet 170 Milliarden Euro pro Jahr

Kinder gehen ohne Frühstück in die Schule, Mütter nehmen während der Schwangerschaft zu wenige Mahlzeiten an, Arbeiter sind in ihrem Job weniger produktiv. Eine Studie der den Demokraten nahestehenden Denkfabrik Center for American Progress beziffert die landesweiten Kosten des Hungers auf umgerechnet fast 170 Milliarden Euro im Jahr. "Der Preis, den unser Land zahlt, ist viel höher als der, den wir zahlen müssten, um dem Hunger ein Ende zu setzen", lautet das Fazit der Autoren.

Eine der großen Speisekammern in New York ist die im Keller der "Church of St. Paul & St. Andrew" auf der Upper West Side in Manhattan. An diesem Mittwoch ist die Schlange dort besonders lang, weil mittwochs die Konserven angeliefert werden. Mindestens 350 Familien holen sich hier heute Lebensmittel ab.
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© INFOGRAFIK WELT ONLINEInzwischen ist jeder siebte Amerikaner auf "Foodstamps" angewiesen
Wer die Schlange draußen überwunden hat, muss sich in die drinnen einreihen. Wartezeit insgesamt: drei Stunden, oft mehr. Die Schlangen sind ein Symbol geworden für das neue, ärmere Armerika. Drinnen rufen Mitarbeiter Namen auf, Kinder schreien, Arbeiter transportieren Essenskisten hin und her, gerade ist eine Ladung Tomaten reingekommen.

"Wir versorgen hier 40 Prozent mehr Hilfsbedürftige als vor zwei Jahren", sagt Hannah Lupien, eine Mitarbeiterin. "Dieses Jahr werde ich hier wohl 10.000 Menschen sehen." Die Kunden der Speisekammer bekommen je nach Anzahl der Familienmitglieder eine Lebensmittel-Karte, auf der die Anzahl der Speisen vermerkt ist, die ihnen zusteht.

Sie ziehen dann wie in einem normalen Supermarkt mit einem Einkaufswagen durch die Gänge. Oft besteht nur die Wahl zwischen zwei verschiedenen Produkten, zwischen Apfel- oder Orangensaft etwa.

50 Dollar im Monat zum Leben

Theresa Klin hat Reis, Spaghetti, Milch, eine Grapefruit, Gemüse, Thunfisch und eine Packung Kekse in ihren Wagen geladen. Vor einem Monat verlor sie ihren Job in einem Callcenter. Weil sie Arbeitslosengeld bekommt, kann sie keinen Antrag auf staatliche Essensmarken stellen. "

Das ist ein Witz, ein schlechter Witz", klagt sie. 300 Dollar Arbeitslosenhilfe bekomme sie pro Woche, aber die gehen größtenteils für Altersvorsorge, Strom, Heizung und Arztbehandlungen drauf. Am Ende blieben ihr 50 Dollar im Monat zum Leben.

Immer wieder kursieren in den Medien Meldungen über Betrugsfälle. Ein blühender Schwarzmarkt ist entstanden. Zigaretten und Alkohol kann man mit den Essensmarken nicht kaufen. Essensmarken werden deshalb mit einem Abschlag von 50 Prozent gegen Bares getauscht, nicht selten werden sie im Internet gegen Drogen gehandelt. Andere Empfänger melden ihre Karte einfach als gestohlen. Bis zu dreimal im Jahr kommt man damit beim Sozialamt durch.

Republikaner verweisen auf Fettsucht

Für die Republikaner ist das alles ein gefundenes Fressen, die geplanten Kürzungen zu begründen. Hannah Lupien bringen pauschale Betrugsvorwürfe auf die Palme. Sie ärgert vor allem, dass wegen einer kleinen Anzahl von Betrügern viele ehrliche Empfänger wie Kriminelle behandelt werden.

So müssen Antragssteller ihre Fingerabdrücke hinterlassen und Kontrollen über sich ergehen lassen. Noch wütender macht sie allerdings der Vorwurf, viele Bedürftige seien zu faul zum Arbeiten. "Man trifft hier keine unwilligen Menschen, sondern Eltern, die ihre Kinder satt kriegen wollen. Wie oft habe ich schon den Satz gehört: Ich habe vier Tage nichts gegessen, weil ich alles meinen Kindern gegeben habe."

Die Republikaner sehen das anders: Essensmarken verstärkten die Fettsucht, sagen sie und verweisen darauf, dass arme Frauen deutlich häufiger übergewichtig seien als Durchschnittsverdiener. Hauptargument für Kürzungen sind für sie aber vor allem die Kosten des Programms, die sich im vergangenen Jahrzehnt mehr als verdreifacht haben. Acht Milliarden Dollar wollen sie 2013 einsparen und 34 Milliarden bis 2022.

Starke positive Wirkung auf US-Wirtschaft

Die Folgen wären dramatisch, warnen die Demokraten. Drei Millionen Amerikaner hätten keinen Anspruch mehr auf Essensmarken. Eine vierköpfige Familie, die heute monatlich Marken im Wert von 500 Dollar beziehe, müsste mit bis zu 60 Dollar weniger auskommen, schätzt das Center on Budget and Policy Priorities.

Dabei sei das SNAP sehr effektiv: 2010 habe es 3,9 Millionen Amerikaner über die Armutsgrenze gehievt, darunter 1,7 Millionen Kinder. "Essensmarken haben die Armut im Land deutlich reduziert", so Ron Haskins vom linksliberalen Thinktank Brookings Institution. "Es muss in allen Bereichen Kürzungen geben. Aber der Rotstift sollte hier nicht ganz so dick angesetzt werden."

Berg hält auch das für keine gute Idee. Die Essensmarken hätten eine starke positive Wirkung auf die US-Wirtschaft. Der Chefökonom der Ratingagentur Moody’s, Mark Zandi, hält Essensmarken sogar für die beste Konjunkturstütze überhaupt. "Jeder investierte Dollar in Essensmarken schiebt die Konjunktur um 1,73 Dollar an", sagt er.

Orientierung an Europa

Doch trotz des erbitterten Streits zwischen den politischen Lagern glaubt Joel Berg nicht, dass das Thema Armut in diesem Jahr zu einem Wahlkampfschlager wird. "Armut wird absolut keine Rolle spielen. Null. Es wird um Ungleichheit gehen. Die richtig Armen werden dabei übersehen."

Er fordert, die Probleme an den Wurzeln anzupacken. Die Menschen müssten von ihren Löhnen leben können, das Sozialsystem solle sich an Europa orientieren: Die vielen verschiedenen staatlichen Hilfsprogramme sollten zu einer Leistung zusammengefasst werden, die dann in bar ausgezahlt werde: "Wir als Hilfsorganisation sind nicht die Antwort auf die Probleme."

Theresa Klin hat inzwischen ihre Einkäufe in der Suppenküche zusammengepackt. Die 34-Jährige ist froh, dass es die Einrichtung gibt. Aber die Speisekammer in Manhattan stößt schon lange an ihre Grenzen. Nur einmal im Monat kann Klein zu der Einrichtung unweit ihrer Wohnung gehen.

Mehr als einen Besuch pro Monat je Bedürftigen kann die Speisekammer nicht bewältigen, dafür fehlen die Mittel. Das Essen reiche aber nur für drei Tage, klagt Theresa. Wenn es aufgebraucht sei, ziehe sie zur nächsten Speisekammer und zur nächsten, immer größere Entfernungen müsse sie in Kauf nehmen. "Das hat schon was von Schikane", sagt sie. "Und nimmt vielen Armen den letzten Rest an Würde."