Was Menschen beschreiben, die dem Tode sehr nahe waren oder bereits als klinisch tot galten und dann ins Leben zurückgeholt wurden, ist Gegenstand einer anhaltenden wissenschaftlichen Kontroverse. An Nahtod-Erlebnissen und außerkörperlichen Erfahrungen scheiden sich die Geister, wahrhaft zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Erklärbarkeit und Unerklärlichem. Kürzlich haben Forscher einen skeptischen Fachbeitrag ins Kreuzfeuer genommen, der keinerlei gültige Beweise für medizinisch nicht erklärbare Nahtod-Erfahrungen sieht. Die Diskussion dürfte in nächster Zeit wieder hochkochen.
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Vor einigen Monaten erschien im Fachmagazin Trends in Cognitive Sciences ein kritischer Beitrag zum Thema Nahtod-Erfahrungen (NDEs). Die Schlussfolgerung: Es gibt nichts Paranormales an diesem Phänomen. Die Autoren dürfen als Experten gelten - Dean Mobbs wirkt als Neurologe an der University of Cambridge, Caroline Watt ist Harvard-Psychologin und forscht an der Koestler Parapsychology Unit (KPU). Beide stellen einhellig fest, dass die Resultate der NDE-Forschung vorwiegend auf anekdotischen Schilderungen beruhen. Es existieren demnach keinerlei Beweise dafür, dass sich während solcher Situationen Vorgänge abspielen, die im Widerspruch zu Erkenntnissen der Hirnforschung stehen. Auch müsse man nicht das Paranormale bemühen, so folgern Mobbs und Watt. Gestaltet sich die Sachlage wirklich so einfach und klar? Das wäre schön - und trifft sogar zu, wenn man Wesentliches außen vor lässt. Auf eine selektive Weise kann mit dem heutigen Stand der Wissenschaft alles wirklich gut erklärt werden.

Anfang August meldeten sich dann drei Forscher zu Wort, ebenfalls ausgewiesene Fachleute - Bruce Greyson, Psychiatrieprofessor von der University of Virginia, Janice Miner Holden von der Uni Texas sowie der niederländische Kardiologe Pim van Lommel. Sie reagierten auf den kritischen Artikel ihrer Kollegen und stellen gleich zum Einstieg ihrer Ausführungen das Kernproblem der Kritik heraus: »Wir weisen darauf hin, dass Mobbs und Watt ›alle Aspekte‹ von Nahtod-Erfahrungen (NDEs) erklärt haben, indem sie Aspekte ignorieren, die sie nicht erklären konnten und indem sie über einen wesentlichen Bestand empirischer Forschungen zu NDEs einfach hinweggesehen haben. ... Wenn aber Mobbs und Watt die Beweise für mögliche paranormale Merkmale nicht berücksichtigen, dann war ihre Behauptung, es gebe nichts Paranormales an NDEs, auch nicht evidenzbasiert.« Wie sie später noch einmal betonen, verlangt die wissenschaftliche Vorgehensweise klar, alle relevanten Daten zu berücksichtigen; nicht allein solche Daten, die eine bereits vorgefasste Annahme stützen - in diesem Falle: NDEs müssen auf die bekannte Neurophysiologie reduzierbar sein. »Die Nahtod-Literatur der vergangenen vier Jahrzehnte hat eine Wandlung vom Anekdotensammeln zu rigoroser wissenschaftlicher Forschung erlebt«, so sagen sie. Greyson, Holden und van Lommel betonen allerdings auch, durch das Einbeziehen der Möglichkeit paranormaler Eigenschaften von NDEs nicht nahelegen zu wollen, hier sogleich mit Übernatürlichem konfrontiert zu sein und somit mit Phänomenen, die jenseits wissenschaftlicher Erklärbarkeit liegen. Sie beschreiben das Paranormale vielmehr als jenen Bereich, der mit den gegenwärtigen Mitteln und Methoden der Wissenschaft nicht mehr erklärt werden kann, und gehen davon aus, dass NDEs als Naturphänomene aufzufassen sind, die demnach auch in völligem Einklang mit den Naturgesetzen stehen.

Die drei NDE-Experten fordern noch einmal nachhaltig eine wissenschaftliche Erforschung des Phänomens. Es lediglich auf eine ungewöhnliche Aktivierung des Gehirns, insbesondere des Schläfenlappens zurückzuführen, auf Halluzinationen in Extremzuständen, werde den bereits gewonnenen Erkenntnissen zu NDEs nicht gerecht. Eine künstliche Stimulation des Temporallappens ruft typischerweise Angstgefühle hervor, nicht aber das häufig von NDE-Zeugen beschriebene Wohlgefühl, so van Lommel und seine Kollegen. Sie weisen auch darauf hin, dass während NDEs nachweislich Hellsichtigkeit auftritt, in dem Sinne, dass die Betroffenen durch das Ereignis neue Informationen erhalten, beispielsweise über Verstorbene, die sie zuvor nicht kannten. Wer selbst eine Nahtod-Erfahrung hinter sich hat, vielleicht gekoppelt an eine außerkörperliche Erfahrung - wie auch der Verfasser dieser Zeilen - , der weiß zumindest um die absolute Realität des Phänomens. Solche Erlebnisse sind weit häufiger als allgemein bekannt. Allein diese Tatsache verlangt nach einer sehr gründlichen und umfangreichen Erforschung, die aber auch eine vorurteilsfreie Herangehensweise erfordert.

In einer ausführlicheren Erwiderung auf den Beitrag von Greyson, Holden und van Lommel gratuliert das Kritiker-Duo den Kollegen zwar zu ihrer hoch respektierten Forschung hinsichtlich einer Dokumentation solcher Erfahrungen, stellt aber die persönliche Sicht heraus, dass keine zwingenden Beweise dafür vorgelegt wurden, NDEs würden den bisherigen Erkenntnissen über unser Gehirn widersprechen. Mobbs und Watt stoßen sich auch am »Paranormalen«. Sie halten diesen Begriff für irreführend, denn üblicherweise stehe er für Phänomene jenseits wissenschaftlicher Forschung und Erklärbarkeit. Doch hat das mit dem Kern der Sache letztlich nichts zu tun; die Definition ändert nichts am Phänomen. Immerhin bestätigen auch die beiden Skeptiker die von Greyson, Holden und van Lommel vertretene Ansicht, dass NDEs mit wissenschaftlichen Methoden erforscht und keinesfalls ohne weitere Untersuchung einfach aufgegeben werden sollten. Allein dieses Aussage demonstriert doch: Was heute über NDEs bekannt ist, muss so bedeutend sein, dass selbst Skeptiker weitere wissenschaftliche Analysen und Studien fordern.