Ob Elbphilharmonie oder Berliner Flughafen: Sind deutsche Großprojekte immer Murks? Eine Studie liefert nun Daten seit dem Jahr 1960. Viele Vorhaben erwiesen sich als groteske Fehlplanungen. Die Flop Ten.
toll collect
Großprojekte genießen keinen guten Ruf. Sie werden oft viel später fertig als versprochen, manchmal um mehrere Jahre. Ebenso häufig sprengen sie den Kostenrahmen, Milliarden an Euro müssen nachgeschossen werden, meistens aus Steuermitteln. Jede Meldung über eine neue Panne verstärkt den Eindruck: Großprojekte werden in Deutschland viel zu optimistisch geplant und dann auch noch schlampig umgesetzt.

Doch stimmt das überhaupt? Kann man die Erfahrungen aus den bekannten Pannenprojekten einfach verallgemeinern? Für verlässliche Antworten darauf fehlten die Daten - bislang. Denn nun haben Forscher der Hertie School of Governance eine Studie veröffentlicht, die zum ersten Mal einen aufschlussreichen Überblick liefert: 170 in Deutschland seit 1960 realisierte Infrastruktur-Großprojekte im öffentlichen Interesse unterteilten die Wissenschaftler in die Kategorien Verkehr, Gebäude, Informations- und Kommunikationtechnologie, Rüstung sowie Energie und untersuchten sie systematisch auf Kostensteigerungen und Zeitverzögerungen.
1. Lkw-Mautsystem Toll Collect

Kostensteigerung 1150 Prozent

Geschätzte 6,9 Milliarden Euro an Mehrkosten - also das 11,5-fache der ursprünglich für das Projekt angesetzten Summe - verursachte das Lkw-Mautsystem den Bund als Auftraggeber. Eingerechnet sind dabei auch die Einnahmeausfälle durch den verspäteten Start der Maut. Die Autoren der Hertie-Studie weisen zudem darauf hin, dass sich der Bund und Toll Collect (an der Telekom und Daimler beteiligt sind) derzeit noch vor einem Schiedsgericht über die Verantwortung für die Mehrkosten streiten. Der tatsächliche Schaden für den Bund kann demnach entsprechend höher oder niedriger ausfallen.

2. FISCUS - Steuersystem
(Sektor Informations- und Kommunikationstechnologie)

Kostensteigerung 1150 Prozent

Ein regelrechtes Desaster war der Versuch von Bundesländern und dem Bund, eine gemeinsame Software für die Steuerverwaltung zu entwickeln. 1993 gestartet, scheiterte das Projekt schließlich im Jahr 2005, am Nachfolgeprojekt werkeln die Bundesländer nun allein herum. FISCUS verursachte Mehrkosten von 4,6 Milliarden Euro und sprengte den Kostenrahmen damit um das 11,5-fache. Grund dafür waren der Hertie-Studie zufolge nicht allein technische Probleme, sondern auch politisch verursachte - immerhin waren 16 Bundesländer sowie der Bund beteiligt.

Projekte aus dem IT-Sektor haben der Hertie-Studie zufolge mit durchschnittlich 394 Prozent die höchsten Kostensteigerungen - und verursachen auch in absoluten Zahlen viele Milliarden Euro an Mehrkosten. Dass sie dennoch weit weniger in der öffentlichen Kritik stehen als problematische Bauvorhaben, könnte daran liegen, dass sie im Wortsinne weniger sichtbar sind.

3. Schneller Brüter in Kalkar
(Sektor Energie)

Kostensteigerung 494 Prozent

Das Atomkraftwerk, das nicht nur Strom, sondern nebenbei auch noch atomwaffenfähiges Plutonium erzeugen konnte, wurde 1985 fertiggestellt, nur zwei Jahre später als geplant. Ans Netz ging der Schnelle Brüter aber nie, zu groß waren letztendlich die Sicherheitsbedenken und die Massenproteste der Anti-Atom-Bewegung, die den Bau seit dem Start 1973 begleiteten. Am Ende kostete Kalkar 2,8 Milliarden Euro - statt der geplanten 471 Millionen Euro. Sinnvoll genutzt wird die Investitionsruine heute dennoch: Auf dem Gelände befindet sich mittlerweile ein Vergnügungspark.

4. Inpol Neu (BKA)
(Sektor Informations- und Kommunikationstechnologie)

Kostensteigerung 491 Prozent

Seit 2003 ist die Polizei-Software beim Bundeskriminalamt in Betrieb. Ein Erfolg, schließlich drohte das Projekt zwei Jahre zuvor bereits komplett zu scheitern. Als Lösung wurde unter anderem der Funktionsumfang abgespeckt. Am Ende konnte die Software also weniger als geplant - dafür wurde sie fast sechsmal so teuer. Die Kostensteigerung in absoluten Zahlen: 119 Millionen Euro.

5. Bischofsresidenz Limburg
(Sektor Gebäude)

Kostensteigerung 425 Prozent

Viel wurde geschrieben über den Protzbau des Franz-Peter Tebartz-van Elst. Und selbst in der nüchternen Sprache einer wissenschaftlichen Studie lesen sich die Ursachen für das katholische Kostendebakel sehr unterhaltsam: "Die Bischofsresidenz sollte ursprünglich 147 Quadratmeter groß werden, endete aber als 2000-Quadratmeter-Komplex mit Erweiterungen wie einem Innenhof, Privaträumen für den Bischof und einer Kapelle - was auf die Dekadenz des Bischofs und seinen Hang zum Luxus zurückgeführt wurde." Immerhin: Es waren keine Staatsgelder, die verschwendet wurden. Und in absoluten Zahlen nehmen sich die Mehrkosten von 25 Millionen Euro noch vergleichsweise bescheiden aus.

6. Sanierung Alter Elbtunnel St. Pauli
(Sektor Verkehr)

Kostensteigerung 364 Prozent

Der 1911 eröffnete Tunnel, der die Landungsbrücken mit der Elbinsel Steinwerder verbindet, gehört zu den beliebtesten Bauwerken der Hamburger. Vielleicht gelten deshalb die enormen Kostensteigerungen seiner Sanierung bei ihnen nicht als Skandal - oder die Hamburger erkennen an, dass den Planern schlicht historische Unterlagen und Baupläne fehlten. So stießen die Bauarbeiter bei der seit 1994 laufenden Sanierung auf zahlreiche Überraschungen. Die Kosten steigen nach derzeitigem Stand um 71 Millionen Euro - einen Teil davon schießt der Bund zu.

7. Thorium-Hochdrucktemperaturreaktor Hamm-Uentrop
(Sektor Energie)

Kostensteigerung 336 Prozent

Das zweite Atomkraftwerk in den Flop Ten. 1971 Baubeginn, 1985 fertiggestellt statt wie geplant 1976, bereits 1989 wieder stillgelegt. Mehrkosten: 3,1 Milliarden Euro.

8. Bonner Kreuzbauten
(Sektor Gebäude)

Kostensteigerung 251 Prozent

In den kreuzförmig angeordneten Hochhäusern des Gebäudeensembles saßen und sitzen Bundesministerien und Behörden. Gebaut wurden die Häuser Anfang der Siebziger, teurer wurden sie um 99 Millionen Euro.

9. Schürmannbau, Bonn
(Sektor Gebäude)

Kostensteigerung 245 Prozent

Geplant als Bürogebäude für die Abgeordneten des Bundestags, gebaut ab 1989, als die Mauer fiel. 1993 wurde der Rohbau durch ein Hochwasser schwer beschädigt, jahrelang ruhte der Bau. 2002 schließlich fertiggestellt, da war das Parlament mitsamt den Abgeordneten aber schon in Berlin. Beherbergt heute die Deutsche Welle. Kostete 497 Millionen Euro mehr als geplant.

10. Gesundheitskarte
(Sektor Informations- und Kommunikationstechnologie)

Kostensteigerung 208 Prozent

Seit Beginn 2015 ist sie nun endlich im Einsatz: die elektronische Gesundheitskarte. Eigentlich sollte sie bereits 2006 eingeführt werden, was allerdings an Kritik und widerstreitenden Interessen zahlreicher verschiedener Akteure scheiterte. Bislang betragen die Mehrkosten fast 3,4 Milliarden Euro.
Zwar betonen die Autoren, dass ihre Studie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt - sie ließen etwa nur Projekte einfließen, für die verlässliche Zahlen und Schätzungen vorlagen. Dessen ungeachtet ist das Ergebnis ernüchternd: Bei den abgeschlossenen Projekten erhöhten sich die Kosten im Durchschnitt um 73 Prozent. Diese hohen Summen hätten die Forscher selbst überrascht, sagt Studienleiterin Genia Kostka, Professorin für Energie und Infrastruktur an der Hertie School.

Doch auch im Detail verblüffen die Ergebnisse der Studie. So waren es weniger Bauprojekte wie die berüchtigten Flughäfen, Bahnhöfe oder Konzerthäuser, die ihren Kostenrahmen besonders drastisch sprengten - fertiggestellte Verkehrswege kosteten im Schnitt 33 Prozent mehr als geplant, Gebäude wurden durchschnittlich um 44 Prozent teurer.

In einem anderen Sektor wurden die Kosten im Schnitt um 394 Prozent überschritten. Um welchen Bereich es sich handelt? Die Aufstellung der zehn größten Flops aus der Hertie-Studie gibt die Antwort.