Die Hunnen kamen aus der Steppe gestürmt und vertrieben die Germanen, so die Theorie. Aber wer waren Attilas wilde Reiter wirklich?

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An allem waren die Hunnen schuld: Sie "haben sich auf die Alanen geworfen, die Alanen auf die Goten und die Goten auf die Taifalen und Sarmaten; die Goten, aus ihrem eigenen Land vertrieben, haben uns aus Illyricum vertrieben", klagte der Mailänder Bischof Ambrosius gegen Ende des 4. Jahrhunderts und prophezeite: "Ein Ende ist noch nicht abzusehen."

Für die Römer waren die aus dem Osten einfallenden Reiter in der Tat der Anfang vom Ende. 476, genau 100 Jahre nachdem der erste Goten-Treck auf der Flucht vor den Hunnen um Asyl im Römischen Reich gebeten hatte, wurde der letzte Kaiser im Westen abgesetzt. Ein Barbar löste ihn ab: Odoaker, ein Germane, dessen Vater noch unter Hunnen-König Attila gedient hatte.

Wer aber waren diese Hunnen, die auf ihren Pferden "gleich dem Wirbelwind aus den hohen Bergen" über die Germanen hinwegfegten und damit den Dominoeffekt gen Rom entscheidend auslösten? Woher kamen sie? Und warum? Die Wahrheit ist: Man weiß es nicht. Nach jahrzehntelanger Forschung kam Hans Wilhelm Haussig 1959 zur tristen Einsicht: "Das Wort Hunnen ... diente dazu, Völkern, deren Herkunft man nicht kannte, einen Namen zu geben." Ein niederschmetternder Befund: Als "Hunnen" bezeichneten die antiken Autoren wahllos alle, die sie nicht kannten. Auch Sprachforscher fischen im Trüben. Das Hunnische sei ein "nur negativ definierbarer Begriff", zitiert der Experte Michael Schmauder den Stand heutiger Wissenschaft. Attilas mächtiges Volk hat keine Sprachfragmente hinterlassen.

Nicht einmal alle Namen ihrer Anführer gelten als hunnisch. Attila ("Väterchen") ist ein germanischer Name. Der mächtigste aller "Hunnen" könnte also im schlimmsten Fall sogar germanischer Herkunft gewesen sein - ganz auszuschließen sei das nicht, räumt der britische Historiker Peter Heather ein.

Da die Hunnen selbst Analphabeten waren, können nur andere Auskunft über sie geben: schriftkundige Männer römisch-griechischer Herkunft. Barbarische Völker galten diesen Autoren per se als minderwertig, und die Hunnen erschienen als die barbarischsten von allen. Überdies kupferten die Chronisten schamlos von den Altvorderen ab. Oft übernahmen sie deren Darstellungen eines längst untergegangenen Nomadenvolks: der Skythen. Ja, sie nannten die Hunnen selbst oft einfach Skythen - genauso, wie einst die ersten hochgewachsenen Goten an den Grenzen schon als Skythen bezeichnet worden waren.

Der Chronist der Ostgoten, Jordanes, schrieb dabei besonders abschätzig über die Hunnen - vielleicht, um die von ihm hochgelobten Goten, also die Ex-Skythen, von diesen wilden Neu-Skythen abzugrenzen. So hätten die Hunnen bereits durch ihr "furchtbares Aussehen" Feinde in die Flucht gejagt. "Sie hatten nämlich ein schreckliches schwärzliches Ansehen", berichtet Jordanes, "gewissermaßen einen abscheulichen Klumpen und kein Gesicht, eher Punkte als Augen." Ihre Kinder würden sie von Geburt an grausam behandeln und "mit Eisen die Wangen" der Knaben durchschneiden, um sie gegen Schmerzen abzuhärten.

Aber auch der Autor, dessen Werk "Res Gestae" heutigen Historikern als zuverlässigste Quelle über die Hunnen gilt, der in Rom ansässige Grieche Ammianus Marcellinus, berichtet über das neue Volk mit geradezu rassistischem Furor. "Alle", behauptet Ammian, der vermutlich nie einem Hunnen persönlich begegnet ist, "sind so entsetzlich entstellt und gekrümmt, dass man sie für zweibeinige Bestien oder Figuren aus Blöcken halten könnte." Gräberfunde bestätigen davon nur, dass manche Hunnen ihren Kindern die Schädel von Geburt an zusammenbanden, so dass diese eine länglich-konische Form annahmen. Die Mode war indes nicht hunnenspezifisch, ebbte aber gegen Ende des 5. Jahrhundert, nach Attilas Tod, ab.

Vielfach kann man Ammian nachweisen, dass er seine Schilderungen anderswo abgeschrieben hatte. So verbreitet er über die Hunnen: "Tag und Nacht auf ihren Pferden kaufen und verkaufen, essen und trinken alle Männer dieses Volkes, und über den schmalen Nacken des Tieres gebeugt, ruhen sie sich in einem so tiefen Schlaf aus, dass er von mancherlei Träumen begleitet ist." Rund 350 Jahre zuvor hatte der Historiker Pompeius Trogus Ähnliches über die Parther gesagt: "Zu jeder Zeit sind sie zu Pferd. Zu Pferd ziehen sie in den Krieg, nehmen an Gastmählern teil, auf ihnen erledigen sie öffentliche und private Geschäfte." Allerdings hatte Ammian aus "zu jeder Zeit" (omni tempore), "Tag und Nacht" gemacht, weshalb er die Hunnen nun sogar schlafend im Sattel lassen musste.

"Halbrohes Fleisch gegessen"

Ammian kolportiert, die Hunnen hätten "halbrohes Fleisch" gegessen, "das sie zwischen ihre Oberschenkel und den Rücken ihrer Pferde legen". Auch das ist eine alte Mär - schon von den Germanen und Kimbern hieß es, sie äßen rohes Fleisch. Ammian setzt noch einen drauf und sagt, die Hunnen hätten gar nicht gekocht. Dagegen steht archäologische Evidenz: Der große Kupferkessel ist in so vielen Grabungsstätten im hunnischen Verbreitungsraum gefunden worden, dass er zu den Leitartefakten dieser Kultur gehört.

Wo aber war nun ihr Ursprung? Auch darüber sind sich die Historiker bis heute nicht einig. Die einzigen Quellen dazu sind, mal wieder, Ammian und Jordanes. "Das Volk der Hunnen ... wohnt jenseits des Mäotischen Sees, nahe dem Eismeer", sagt Ammian. Diesem "Eismeer" ordnen Experten den Balchasch-See in Kasachstan zu - einen Ort in mehr als 5000 Kilometer Entfernung von Ammians Wohnort Rom. Und Jordanes weiß zufällig, dass die Hunnen von "haliurunnae" abstammen, von gotischen Zauberfrauen, "hässlich und klein".

Noch weniger bekannt ist, warum die Hunnen überhaupt ihre ferne Heimat verließen. Sie seien bei der Jagd einer Hirschkuh gefolgt, erzählt Jordanes, quer durch das "Mäotische Sumpfmeer" - bis sie plötzlich in der Provinz Skythien standen, einer Steppenregion nördlich des Schwarzen Meeres.

An diese Legende glaubt natürlich keiner der Hunnen-Forscher mehr. Doch warum die Nomaden sich mit Pferd und Wagen auf den langen Treck nach Westen machten, wissen sie auch nicht. Wurden sie von einem anderen Volk vertrieben? Oder lockte sie die Kunde vom Reichtum der Mittelmeerkulturen?

Denn was die Hunnen haben wollten, darüber sind sich alle einig: Beute. Bei ihren Angriffen ging es stets um "Geld und noch mehr Geld", weiß Mediävist Heather. Sein deutscher Kollege Michael Schmauder betont, dass die Hunnen nicht über Territorien herrschten, sondern über Menschen. Sie verbündeten sich relativ wahllos mit anderen Völkern - Hauptsache, es sprang dabei etwas heraus.

Die Hunnen waren eine Art Piratenvolk zu Lande, als Krieger gefürchtet. "Ihre Hände sind furchtbar", schrieb Sidonius Apollinaris, "treffsicher mit ihren Geschossen senden sie unfehlbaren Tod, in ihrer verbrecherischen Kampfwut verfehlen sie nie ihr Ziel."

Ihre geschmiedeten Pfeile waren dreikantig. Sie rissen klaffende Wunden und kamen grausig heulend über enorme Strecken angeflogen - mehrere hundert Meter weit. Bis zu zwölfmal pro Minute konnte ein Schütze feuern, perfiderweise auch nach hinten. Die Holzsättel hatten vorn und hinten hohe Bögen, so dass geübte Reiter nicht herunterfielen, während sie - scheinbar sich zurückziehend - den Oberkörper nach hinten gedreht die Feinde beschossen.

Diese Technik hatten die Hunnen den Kavalleristen anderer Völker voraus, zumal viele von ihnen, etwa die Sarmaten, schwere Panzer trugen, die sie unbeweglich machten. Die Hunnen dagegen kämpften ohne Rüstung. Im Nahkampf zückten sie ihr Schwert, die "Spatha", mit langer zweischneidiger Klinge.

Die wichtigste Waffe war der Bogen

Ihre wichtigste Waffe war jedoch der Bogen. Er war alles andere als primitiv. In oft mehrjähriger Arbeit wurde er aufgebaut - aus Horn, Knochen, Sehnen, unterschiedlichen Hölzern und Fischgrätenleim. Diese Komposittechnik verlieh dem Bogen seine Flexibilität. Denn der Reflexbogen war noch im ungespannten Zustand gespannt - nur in die entgegengesetzte Richtung.

Schon in Gräbern aus dem 3. Jahrtausend vor Christus wurden Reste von Reflexbögen um den Baikalsee gefunden. Die technische Besonderheit bei den Hunnen war seine Länge: Während die Bogen der Skythen nur 80 Zentimeter lang waren, hatten die hunnischen mit 130 Zentimetern eine weit höhere Durchschlagskraft. Für die Handhabbarkeit vom Pferd aus sorgte deren asymmetrische Form: Der Teil unterhalb des Griffs war kürzer als der obere.

Was aber bewirkten die mit solchen Spezialwaffen gerüsteten Scharen wirklich? Michael Kulikowski, Spezialist für spätantike Geschichte an der Pennsylvania State University, hält die Dominotheorie für reichlich simpel, "wonach die Hunnen die Alanen umgestoßen haben, die ihrerseits die Greutungen veranlassten, die Terwingen in die Römer zu schubsen".

In der Tat schnappten die Hunnen nicht Wölfen gleich nach den Fersen fliehender Goten, wie Ammian es darstellte. Als der große Goten-Treck nämlich 376 am Ufer der Donau anlangte, musste das Volk monatelang warten, bis der ferne Kaiser ihm Asyl gewährte. Man lagerte da mit allem Hab und Gut, mit Frauen und Kindern - aber trotzdem erwähnen die Chronisten keinerlei Überfälle der Hunnen.

Nein, die Goten wussten, dass der Kaiser Ostroms sie gern aufnehmen würde - hatten sie ihm doch billige Rekruten zu bieten. Und so waren, meint Kulikowski, die Hunnen vielleicht doch nicht Grund für den Aufbruch der Goten, sondern bloß Katalysator. Der Antikenforscher glaubt, dass es vielmehr die Römer selbst waren, die die Barbaren anlockten. Ein Usurpator wechselte den anderen ab an der Spitze des Reichs, ein Bürgerkrieg folgte dem nächsten. Zum Beweis, dass die Zeitzeugen diesen Zusammenhang auch schon sahen, zitiert er Ammian: Die Barbaren "waren wie wilde Tiere, die sich angewöhnt haben, ihre Beute aufgrund der Nachlässigkeit der Hirten zu stehlen".

Die Barbaren machten gemeinsame Sache

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© CorbisGefürchtete Krieger (Holzschnitt): Zu Pferd fielen die Hunnen überall ein, wo es etwas zu holen gab. Unter anderem brannten sie Dörfer im heutigen Italien nieder.
Außerdem machten die Barbaren merkwürdigerweise gemeinsame Sache. Als die Goten ein Jahr später gewaltsam in Thrakien einfielen und die Provinz verwüsteten "mit Totschlag und gewaltigen Bränden", waren Hunnen und Alanen mit von der Partie.

Rund 30 Jahre später war die Situation noch verworrener. Da führte ein gewisser Radagaisus - ein Gote, vermutlich ostgotischer, greutungischer Herkunft - ein riesiges Heer nach Oberitalien. Angeblich flohen sie alle vor den Hunnen, die ihr Kerngebiet noch weiter nach Westen, ins Große Ungarische Tiefland, verlegt hatten. Die germanischen Bewohner stimmten quasi mit den Füßen ab, so Heather: "Zu versuchen, eine neue Existenz auf römischen Boden aufzubauen, erschien als weniger große Gefahr, als fortan unter hunnischer Vorherrschaft zu leben."

Ironischerweise wurden Radagaisus' hunnenflüchtige Goten von einer Armee gestoppt, zu der auch wieder Hunnen gehörten. Der weströmische Heermeister Stilicho hatte die Krieger von deren Herrscher Uldin angeheuert; bei Florenz wurde Radagaisus hingerichtet.

Ebenjener Uldin fiel kurz darauf, 408, selbst ins Oströmische Reich ein. Konstantinopel versuchte, den Hunnen-Fürsten mit Tributzahlungen zu besänftigen. Aber Uldin lehnte das Angebot in großer Selbstherrlichkeit ab, "indem er", wie ein Zeitzeuge berichtete, "auf die aufgehende Sonne zeigte und erklärte, dass es für ihn, wenn er es wünsche, leicht wäre, jedes Gebiet dieser Erde zu unterwerfen, das von diesem Gestirn erhellt würde". Dumm nur für den prospektiven Weltenherrscher, dass seine Krieger realistischer waren: Uldins Truppen liefen scharenweise zu den zahlungsfähigen Römern über.

Von den Hunnen hört man danach immer wieder als Rekruten in fremden Heeren. Sie kämpften mit in Nordafrika 424 für den römischen Usurpator Johannes gegen dessen Widersacher, den Feldherrn Bonifatius; ein Jahr später unterstützten hunnische Reiter den letzten weströmischen Helden Flavius Aëtius gegen die Oströmer. Der Einsatz in Italien endete wie stets: Die Hunnen erhielten "eine Summe Goldes, gaben Geiseln zurück, tauschten Eide aus und ritten in ihr Land zurück", wie der Hunnen-Kenner Otto Maenchen-Helfen notiert. Kein Wunder, dass Hunnen-Fürst Rua angeblich sogar 60.000 Söldner für Aëtius mobilisieren konnte.

Attila, die "Geißel Gottes"

Mit einem Paukenschlag treten die Hunnen ein letztes Mal ins Rampenlicht der Weltgeschichte: Von 434 bis 453 bestimmte Attila, die "Geißel Gottes", ihre Geschicke.

"Attila zermalmte fast ganz Europa zu Staub", behauptete ein Zeitgenosse, ein Diktum, dem die Historiker jahrhundertelang folgten. So glaubte noch der große Theodor Mommsen, Attilas Reich habe vom Ural bis zu den britischen Inseln gereicht. All das waren Mythen, wie Maenchen-Helfen in seinem postum erschienenen Grundlagenwerk nachzeichnete. Attilas Reich war kaum größer als das des heute unbekannten Daker-Königs Burebista, der im 1. Jahrhundert vor Christus von der Mündung der Donau über den Balkan bis zur Slowakei herrschte.

Und als Römerfeind sei Attila nur wenig schlimmer gewesen als der gotische Condottiere Theoderich Strabo, "das Schielauge", der Schrecken der Oströmer. Die höchste Tributzahlung, die Attila den Römern mit Gewalt entlockte, waren 2100 Pfund Gold jährlich - nur 100 Pfund mehr als das, was der oströmische Kaiser Leo dem schrecklichen Strabo etwa 30 Jahre später zahlte.

Attila war, bilanziert Maenchen-Helfen, "der Alleinherrscher über die Hunnen" sowie "Herr über die Goten und Gepiden, ein mächtiger Krieger und für einige Jahre mehr als nur ein Ärgernis für die Römer". Nie aber war die Geißel Gottes "eine wirkliche Gefahr".

Die kam nach Attilas Tod mit den Germanen auf die Römer zu. In zwei Kriegen schlugen die Goten die Hunnen. Danach ging dieses mysteriöse Volk in die Geschichte ein.

469 fand der letzte hunnische Führer sein Ende: "Dinzirichus, der Sohn Attilas, wurden von Anagastes, dem General in Thrakien, getötet", so das um 630 entstandene "Chronicon Paschale". "Sein Haupt wurde nach Konstantinopel gebracht, in einer Prozession durch die Hauptstraße geführt und im Holzzirkus auf einen Pfahl gesteckt. Die ganze Stadt kam, um es anzusehen."