Über der Südsee hat ein internationales Forscherteam ein bisher unbekanntes Atmosphären-Phänomen entdeckt. In einer Schicht, die durch ihre chemische Zusammensetzung den Transport der meisten natürlichen und menschgemachten Stoffe in die Stratosphäre verhindert, befindet sich über dem tropischen Westpazifik ein natürliches, unsichtbares Loch von mehreren tausend Kilometern Ausdehnung.
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© Markus Rex, Alfred-Wegener-InstitutDas Herkunftsgebiet der Luft in der Stratosphäre, Abb. (b) Ozonsondenmessungen (Punkte) und Satellitenmessungen (Farbkarte) der Gesamtmenge von Ozon in der troposphärischen Luftsäule und Abb. (c) die mit einem Modell berechnete Gesamtmenge von OH in der troposphärischen Luftsäule.
Potsdam (Deutschland) - Wie die Wissenschaftler um Dr. Markus Rex vom Alfred-Wegener-Institut vom Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung im Fachjournal Atmospheric Chemistry and Physics berichten, gelangen durch dieses Loch viele chemische Verbindungen aus bodennahen Luftschichten ungefiltert durch die so genannte "Waschmittelschicht" (OH-Schicht) der Atmosphäre. Das neu entdeckte Phänomen über der Südsee verstärke den Ozonabbau in den Polarregionen und könnte - auch wegen der steigenden Luftverschmutzung in Südostasien - das künftige Klima der Erde erheblich beeinflussen.

Angesichts der Entdeckung befürchteten die Forscher zunächst eine Kette von Messfehlern, als sie im Oktober 2009 mit dem deutschen Forschungsschiff "Sonne" unterwegs waren, um im tropischen Westpazifik Spurenstoffe in der Atmosphäre zu messen. Während die schon vieltausendfach erprobten Ozonsonden, die im Abstand von jeweils 400 Kilometer mit einem Forschungsballon in den Himmel über der Südsee gestartet waren, meldeten - fast nichts. Die Ozonkonzentrationen lagen bei im gesamten Bereich vom Erdboden bis etwa 15 Kilometer Höhe fast durchgängig unter der Nachweisgrenze von ca. 10 ppbv (von einem "part per billion" Ozon spricht man, wenn ein Ozonmolekül auf jeweils eine Milliarde Luftmoleküle kommt). Normalerweise sind Ozonkonzentrationen in diesem Bereich der Atmosphäre drei- bis zehnmal so hoch.

"Obwohl aus früheren Messungen im Randbereich des tropischen Westpazifiks niedrige Werte in einer Höhe von etwa 15 Kilometern bekannt waren, war die komplette Abwesenheit von Ozon in allen Höhen überraschend. Doch nach kurzer Zeit des Zweifels und diversen Tests der Instrumente dämmerte dem weltweit anerkannten Ozon-Spezialisten, dass er einem bisher unbekannten Phänomen auf die Spur gekommen sein könnte", erinnert die Pressemitteilung der Forscher. Mittlerweile konnte die ungewöhnliche Entdeckung eindeutig bestätigt werden.

Schon allein die Tatsache, dass eine natürliche Anomalie wie das OH-Loch über dem tropischen Westpazifik trotz seiner gigantischen Größe von mehreren tausend Kilometern Durchmesser der Forschung bisher verborgen geblieben war, zeige, wie komplex das Geschehen in der Atmosphäre ist.

"Auch wenn der Himmel für die meisten Menschen wie ein weitgehend gleichförmiger Raum erscheint, besteht er aus chemisch-physikalisch sehr unterschiedlichen Schichten. In bodennahen Luftschichten sind hunderte, wenn nicht tausende chemischer Verbindungen enthalten", erläutert die Pressemitteilung des Instituts und führt weiter aus: "Deshalb riecht es im Winter anders als im Frühjahr, im Gebirge anders als am Meer, in der Stadt anders als im Wald. Die allermeisten dieser Substanzen werden in den unteren Kilometern der Atmosphäre in wasserlösliche Bestandteile zerlegt und mit dem Regen wieder ausgewaschen. Da diese Prozesse auf der Anwesenheit einer bestimmten chemischen Substanz - dem so genannten 'OH-Radikal' - beruhen, wird dieser Bereich der Atmosphäre auch als 'OH-Schicht' bezeichnet. Sie wirkt wie eine riesige atmosphärische Waschmaschine, bei der OH das Waschmittel ist.

Die OH-Schicht wiederum ist Teil der Troposphäre - so wird der untere Bereich der Atmosphäre genannt. 'Nur wenige, besonders langlebige Verbindungen schaffen den Weg ungehindert durch die OH-Schicht', erläutert Markus Rex, 'überbrücken dann auch noch die Tropopause und stoßen bis in die Stratosphäre vor.' Als Tropopause bezeichnen Wissenschaftler die ebenfalls schwer passierbare Grenzschicht zwischen der Troposphäre und der darüber gelegenen, nächsten Atmosphärenschicht, der Stratosphäre. Insbesondere Substanzen, welche in die Stratosphäre gelangen, entfalten eine weltumspannende Wirkung. Denn wenn sie erst einmal bis in die Stratosphäre vorgedrungen sind, verbleiben ihre Abbauprodukte dort oben für viele Jahre und verteilen sich über den gesamten Globus."

Zu den besonders langlebigen chemischen Verbindungen, die den Weg auch bei kompakter OH-Schicht bis in die Stratosphäre schaffen, gehören z.B. Methan, Distickstoffmonoxid ("Lachgas"), Halone, Methylbromid und die als sog. "Ozonkiller" berüchtigten Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), die maßgeblich für den Ozonschwund in den Polarregionen verantwortlich sind.

Obwohl Wissenschaftler mittlerweile den komplizierten Prozess des stratosphärischen Ozonabbaus mittlerweile sehr gut verstehen, "zeigte sich immer wieder, dass der Ozonschwund in der Realität um einiges stärker war als unsere Modelle ihn theoretisch berechnet haben", erläutert Rex und beschriebt damit ein lange ungelöstes Problem der Atmosphärenforschung. "Mit dem OH-Loch über dem tropischen Westpazifik haben wir jetzt vermutlich einen Beitrag zur Lösung dieses Rätsels gefunden."

Gleichzeitig wirft das Loch eine ganze Reihe neuer Fragen für die Klimapolitik auf, denen die Forscher nun in einem neuen, von der EU mit etwa 9 Millionen Euro geförderten Forschungsprojekt namens "StratoClim" nach, das vom Alfred-Wegener-Institut koordiniert wird. Im Rahmen dieses Projektes baut das AWI in Zusammenarbeit mit dem Institut für Umweltphysik eine neue Messstation im tropischen Westpazifik auf.

"Wir müssen uns darüber im Klaren sein", warnt der Potsdamer Atmosphärenphysiker, "dass chemische Verbindungen, die in die Stratosphäre gelangen, immer global wirksam werden." Durch das OH-Loch, das die Forscher über dem tropischen Pazifik entdeckt haben, können nicht nur Methylbromid, sondern auch weitere bromierte Kohlenwasserstoffe in größeren Mengen in die Stratosphäre gelangen als in anderen Teilen der Welt. Obwohl ihr Aufstieg über dem tropischen Westpazifik erfolgt, verstärken diese Verbindungen den Ozonabbau in den Polarregionen. Seitdem die Wissenschaftler dieses Phänomen erkannt und bei der Modellierung des stratosphärischen Ozonabbaus berücksichtigt haben, stimmen ihre Modelle mit den tatsächlich gemessenen Daten hervorragend überein.

Es sind aber nicht nur bromierte Kohlenwasserstoffe, die über dem tropischen Westpazifik verstärkt in die Stratosphäre gelangen. "Man kann sich diese Region wie einen riesigen Fahrstuhl in die Stratosphäre vorstellen", zieht Markus Rex einen naheliegenden Vergleich. Auch andere Substanzen steigen hier in bisher nicht geahntem Umfang auf, während sie andernorts auf dem Globus in der OH-Schicht abgefangen werden. Zum Beispiel das erheblich klimawirksame Schwefeldioxid.
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© Yves Nowak, Alfred-Wegener-InstitutSo kommen Luftmassen in die Stratosphäre: Durch schnellen Aufwärtstransport in tropischen Gewittertürmen gelangen sie in einen Bereich langsamer großräumiger Aufwärtsbewegung und steigen von dort im Verlauf von Wochen durch die Tropopause in die Stratosphäre auf. Dieser Prozess ist im nordhemisphärischen Winter am stärksten und Modellrechnungen zeigen, dass er dann hauptsächlich über dem tropischen Westpazifik stattfindet. Durch die Bildung von Zirrus-(=Eis-)wolken an der extrem kalten tropischen Tropopause wird dabei ein Großteil der wasserlöslichen chemischen Substanzen aus der Luft entfernt und kann nicht in die Stratosphäre gelangen. Da OH-Moleküle wasserunlösliche in wasserlösliche Verbindungen verwandeln, gelangen umso weniger chemische Verbindungen in die Stratosphäre, je höher die Konzentration von OH-Molekülen entlang der gepunktet eingezeichneten Transportwege ist. Umgekehrt gilt: Je geringer die OH-Konzentration entlang der Transportwege ist, desto mehr chemische Verbindungen gelangen in die Stratosphäre.
In der Stratosphäre reflektieren Schwefelpartikel Sonnenlicht und wirken deshalb als Gegenspieler atmosphärischer Treibhausgase wie Kohlendioxid (CO2), die die Wärme der Sonne auf der Erde einfangen. Vereinfacht gesagt: Während Treibhausgase in der Atmosphäre den Globus erwärmen, haben Schwefelpartikel in der Stratosphäre einen kühlenden Effekt. "Südostasien entwickelt sich in wirtschaftlicher Hinsicht rasant. Anders als in den meisten Industrienationen wurde in Südostasien bisher aber wenig in Filtertechnologien investiert. Deshalb steigt der Schwefeldioxidausstoß in dieser Region gegenwärtig stark an", erläutert Markus Rex ein im Klimakontext bisher wenig beachtetes Problem.


Kommentar: Das CO2-Märchen


Berücksichtigt man, dass Schwefeldioxid durch das OH-Loch über dem tropischen Westpazifik eventuell auch bis in die Stratosphäre gelangen kann, wird schnell deutlich, dass der "atmosphärische Fahrstuhl" über der Südsee nicht nur den Ozonabbau in den Polarregionen verstärkt, sondern das gesamte Erdklima beeinflussen könnte. In der Tat scheint die Menge an Schwefelteilchen in der Stratosphäre in den letzten Jahren zugenommen zu haben. Noch wissen die Forscher aber nicht, ob hier ein Zusammenhang besteht.

Aber wäre es nicht eine geradezu glückliche Fügung, wenn Luftschadstoffe aus Südostasien die Klimaerwärmung abmildern könnten?


"Auf gar keinen Fall", sagt der Potsdamer Atmosphärenphysiker Rex. "Das OH-Loch über der Südsee ist vor allem ein weiterer Beweis, wie komplex das Klimageschehen auf der Erde ist. Und wir sind weit davon entfernt, die Konsequenzen verstärkter Schwefeleinträge in die Stratosphäre auch nur annähernd abschätzen zu können. Deshalb sollten wir alles daran setzen, die Prozesse in der Atmosphäre so gut wie möglich zu verstehen und alles vermeiden, sie bewusst oder unbewusst mit ungewissem Ausgang zu manipulieren."

Quelle: awi.de