Die türkische Regierung lässt Twitter sperren und Inhalte löschen - einfach, weil ihr ein Foto nicht gefällt. Der Schuss geht nach hinten los. Die Bürger wehren sich mit einer Flut von Twets.

Youtube und Twitter App vor tuerkischer Fahne
© dpaSoziale Netzwerke wie Twitter und YouTube sind der türkischen Regierung stets ein Dorn im Auge – obwohl sie sie selber eifrig nutzen
Ein Foto, das im Internet kursiert, brachte vor zwei Tagen ein türkisches Gericht dazu, die Blockade von 166 Webseiten zu verfügen. Darunter waren auch die sozialen Netzwerke wie Twitter, Facebook und YouTube. Doch was war auf diesem Foto zu sehen, das solche Wellen in der Türkei schlug?

Gezeigt wurde ein Terrorist der linken Terrorgruppe DHKP-C, wie er dem Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz aus Istanbul eine Pistole an den Kopf hielt. Stunden später waren beide - sowie ein weiterer Terrorist - tot. Sicherheitskräfte hatten das winzige Büro des Staatsanwalts gestürmt, Kiraz brach unter fünf Schüssen zusammen. Das Foto war zu diesem Zeitpunkt bereits in vielen türkischen Medien sowie weltweit im Internet zu sehen, obwohl die Regierung eine Nachrichtensperre verhängt hatte.

Dann vergingen sechs lange Tage. Längst war niemand mehr neugierig auf das Foto. Da schlug die Justiz zu. Die ersten Webseiten wurden blockiert. Das Ergebnis war zunächst nicht im Sinne der Richter: Twitter explodierte geradezu, mit drei Millionen Tweets aus der Türkei in den ersten Stunden der Blockade. Die gewieften Nutzer umgingen die Sperre unter anderem mit sogenannten VPN-Diensten (virtuelles privates Netzwerk), mit denen man einfache behördliche Sperren umgehen kann.

Nur wenige Stunden später knickten die amerikanischen Internetgiganten ein und fügten sich den Forderungen der türkischen Justiz. Der Vorgang zeigt, wie wichtig die sozialen Netzwerke in der politischen Debatte der Türkei sind - und wie wichtig der türkische Markt für die Betreiber ist.

Starker politischer Druck

Durch die Sperre rückte das unerwünschte Foto für die Internetnutzer plötzlich wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Im Internet war die Aufregung enorm: Die autoritäre Türkei versuche die Pressefreiheit noch mehr zu untergraben, das ganze sei ein Vorgeschmack auf das, was bei den anstehenden Parlamentswahlen in zwei Monaten passieren werde. Denn wenn nichts mehr hilft, lässt die Justiz die Netzwerke blockieren, so geschehen im März 2014, kurz vor den damaligen Lokalwahlen. Insofern argwöhnen auch diesmal viele Nutzer, die Sperre sei eine "Generalprobe" vor den Parlamentswahlen gewesen.

Das furchtbare Foto war vom Wesen her nicht viel anders als die Internetpropaganda des Islamischen Staates (IS), der seine Horrorexekutionen unschuldiger Geiseln im Internet verbreitet, mit der Hoffnung auf möglichst weite Verbreitung.

Allerdings ging es der türkischen Führung in dieser Auseinandersetzung sicher nicht um Moral oder guten Geschmack und den amerikanischen Internetfirmen nicht um Meinungsfreiheit. Längst haben in der Türkei die sozialen Medien die Rolle übernommen, die einst die traditionellen Medien hatten: Hier wird Meinung gebildet, hier holt man sich seine Informationen.

Die türkischen Medien stehen mittlerweile zu stark unter politischem Druck und Einfluss, ihre online verlinkten Angebote machen die Nutzer nicht mehr neugierig. Sie sind in den sozialen Netzwerken unterwegs, um an Nachrichten zu gelangen. Und weil die sozialen Netzwerke so wichtig sind, wird die politische Schlacht sowohl von der Regierung als auch von ihren Gegnern zunehmend dort ausgetragen.

Rätselhafte Twitter-Accounts

Auf Tweets des Twitter-Users @fuatavni_f, der 775.000 Follower hat, wartet die Netzgemeinschaft mit großer Neugier. Auch seine Ausweichaccounts werden ebenfalls von Hunderttausenden Abonnenten gelesen. Er gilt als Insider im Umfeld der türkischen Regierung und kündigte mehrfach Polizeioperationen kurz vor deren Durchführung an. Als im Dezember 2013 Tonbandaufnahmen führender Regierungspolitiker auftauchten und Korruptionsvorwürfe gegen sie laut wurden, wurden diese Informationen von rätselhaften Twitter-Accounts verbreitet - etwa "Hamzadeler" und "Bascalan", mit Hunderttausenden von Followern. Auf Druck der türkischen Regierung wurden sie von Twitter gelöscht.

All das mag erklären, warum der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdogan im Sommer 2013 erklärte, Twitter sei eine "große Gefahr". Die Regierung bedient sich jedoch derselben Waffen. Ankaras Bürgermeister Melih Gökcek ist mit seinen mehr als 2,5 Millionen Followern ein legendärer Onlinewüstling, der unverblümt über seine Kritiker herfällt. Wie in dem Fall einer BBC-Journalistin, die er der Spionage bezichtigte. Auf der anderen Seite verklagt er jeden, der ihn auf Twitter verlacht oder beleidigt.

Für die Netzwerke und deren an Geld interessierte Betreiber gibt es ein Problem: Die Türkei ist ein wichtiger Markt, die Nutzer sind zahlreich und sehr aktiv. Regelmäßig tauchen türkische Twitter-Hashtags in den weltweiten Top Ten auf. In dem Land mit 80 Millionen Einwohnern waren im Jahr 2014 mehr als die Hälfte in sozialen Netzwerken aktiv.

Insofern ist es für Facebook, Twitter und YouTube eine schwierige Gratwanderung. Meinungsfreiheit predigen, aber einer politisch gelenkten Justiz gehorchen, um weiter online zu bleiben - das kann auch Gefahren mit sich bringen. Und zwar dann, wenn die Nutzer sich abwenden, weil sie den Netzwerken nicht mehr trauen.