In einem aufwendigen Versuch haben Forscher drei Jahre lang jedes Wort aufgenommen, das ein Kleinkind zu Hause hörte. Sie wollten verstehen, welche Wörter ein Kind wann lernt - und warum.
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"Mama", "Papa", "Bagger" - Eltern wissen meist ganz genau, welches Wort ihr Kind als erstes gesagt hat. Aber welche Wörter folgen? Und wovon hängt es ab, dass ein Kind manche Wörter früher, manche später lernt?

Um dies zu ergründen, erdachten Forscher am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge ein Experiment, das an "Big Brother" erinnert: Sie dokumentierten fast lückenlos die ersten drei Jahren im Leben eines kleinen Jungen. Dafür lebte der Forscher Deb Roy mit seiner jungen Familie in einem eigens präparierten Haus. 14 Mikrofone nahmen zehn Stunden am Tag Gespräche auf, damit liefen sie 70 Prozent der Zeit, in der das Kind wach war. So kamen 200.000 Stunden Bild- und Tonmaterial zusammen.

Ausgewertet wurden die Daten vom 9. bis 24. Lebensmonat. Die Forscher schrieben jedes Wort auf, das der kleine Junge hörte, und jedes, das er selbst sprach - insgesamt rund acht Millionen Wörter. Elf Kameras hielten wiederum fest, wo das Wort gesprochen wurde.

Sprache lernen beim Spielen

Der Aufwand habe sich gelohnt, finden die Forscher, denn ihre Vermutung hat sich bestätigt: Das Kind lernte Wörter schneller, die in einem sogenannten charakteristischen Kontext benutzt wurden. Darunter verstehen die Forscher, dass ein Wort zu einer bestimmten Tageszeit, an einem bestimmten Ort oder zusammen mit den stets gleichen Worten gesprochen wurde. Je unverwechselbarer die Benutzung des Wortes war, umso früher sprach das Kind das Wort zum ersten Mal.

Mit der Untersuchung von Ort, Zeit und sprachlichem Zusammenhang der gehörten Wörter wollten die Forscher eine spezielle Hypothese überprüfen. Sie besagt, dass Kinder dann Sprache leichter lernen, wenn die Wörter in Handlungen eingebunden sind, die sich oft wiederholen und die das Kind gut vorhersehen kann. Beispiele dafür sind etwa das Mittagessen oder Spiele. Innerhalb dieser Situationen könnten sich Kindern die Bedeutung von Wörtern besser erschließen. Da solche ritualisierten Handlungen meist an einem bestimmten Ort oder zu einer bestimmten Uhrzeit stattfinden, konzentrierten sich die Forscher auf diese Faktoren.

Bekannt ist bereits aus Laborstudien, dass Kinder ein Wort besonders leicht erlernen, wenn es kurz ist, wenn es in kurzen Sätzen auftaucht und sie es häufig hören. Es hilft den Kindern, wenn die Kommunikation in das Alltagsleben eingebettet ist. Auch wenn man sie direkt anspricht, verarbeiten Kinder Sprache besser, als wenn sie einem fremden Gespräch lauschen.

Welcher Faktor den größten Einfluss hat, liegt laut der neuen Studie auch an der grammatikalischen Struktur. Nomen erlernen Kinder leichter, wenn sie diese häufig hören. Bei abstrakten Strukturen wie Pronomen, Konjunktionen oder Präpositionen hingegen ist es entscheidend, dass sie in kurzen Sätzen auftauchen: "Nein", "Hi" und "Tschüs" lernen Kinder schnell; "aber" und "falls", die eher in langen Sätzen vorkommen, werden erst später nachgeahmt.

Ziel der Forscher war es nicht nur zu zeigen, dass viele Faktoren den Spracherwerb beeinflussen. Die Erkenntnisse sollen auch dabei helfen, Kinder mit Sprachdefiziten besser zu fördern. Um den Spracherwerb von Kleinkindern weiter zu erforschen, müssten daher möglichst viele Informationen gesammelt werden - Sprachforschung wird zum Big-Data-Projekt.

Bei manchen Wörtern bedarf es allerdings keiner großen Wissenschaft, um zu erklären, warum sie zuerst gesprochen werden. Das erste Wort sprach Deb Roys Sohn mit neun Monaten: "Mama".

mls