Seit Jahren bestimmen Nazis das Dorf Jamel. Nun ist ein Brandanschlag auf die letzten Demokraten dort verübt worden. Höchste Zeit, solche Orte zurückzuerobern.

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© Jens Büttner/dpaHeruntergebrannte Scheune von Neonazi-Gegnern

Bisher weiß niemand mit Sicherheit, wer den Brandanschlag auf das Ehepaar Lohmeyer in Jamel verübt hat. Doch es spricht einiges dafür, dass Nazis wieder einmal versucht haben, jemand Unliebsamen aus dem Dorf zu vertreiben.

Es ist, so muss man das sagen, ihr Dorf. Jamel ist nicht neu auf der Landkarte der Unmenschlichkeit. Hier wird es wohl so bald keine Solidaritätsdemos für Asylbewerber geben. Und wenn es nun heißt, der Ort sei von Rechtsextremen dominiert, wird sich auch kaum jemand beschweren. Ganz im Gegenteil: Geht es nach ihnen, sollen es alle wissen.

Die Geschichte Jamels nach der Wende ist zum Gruseln: Bewaffnete Nazis, offene NS-Propaganda und immer wieder Brandanschläge. Betroffen waren Menschen, die den Nazis nicht passten. Rechtsextreme sind hier keine stillschweigend geduldete Gruppe Gewaltbereiter. Sie sind, das ist seit Jahren gut dokumentiert, die Mehrheit. Schon 2007 hatte der damalige Ortsbürgermeister Wandel das Dorf öffentlich abgeschrieben: "Wir haben Jamel aufgegeben."

Da muss doch jemand was unternehmen, denkt man. Da muss der Gesetzgeber aktiv werden, da müssen die Medien berichten, da müssen doch die demokratischen Bürger aufstehen und sich klar gegen Nazis positionieren.

Das Beklemmende ist, dass all das bereits geschehen ist. Jährlich veranstalten die Lohmeyers ihr Festival gegen den Rechtsextremismus unter Schirmherrschaft der Landtagspräsidentin; ein Versuch dieses unglaublich mutigen Ehepaares, die Nazis wenigstens für zwei Tage zu verdrängen. In zwei Wochen sollte das nächste stattfinden. Innenminister Lorenz Caffier (CDU) hat sich den Ort persönlich angeschaut. Der Landesregierung kann man, anders als der sächsischen, auch insgesamt nicht den Vorwurf machen, den Rechtsextremismus im Land zu verniedlichen.

Und doch sehen die Nazis bis heute keinen Grund, sich zu verstecken. Die bittere Wahrheit ist, dass es ihnen in Mecklenburg-Vorpommern, aber auch in anderen Bundesländern des Ostens gelungen ist, ganze Gemeinden unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie haben mithilfe von Gewalt und Einschüchterung Zonen geschaffen, in denen sie de facto regieren. Ganz so, wie sie sich das Anfang der neunziger Jahre vorgenommen haben.


Kommentar: Aufgrund derartiger Einschüchterung gehört diese Familie zu den Wenigen, die gegen die Rechtsradikalisierung in ihrer Region aktiv sind. Die meisten anderen schwimmen mit dem Strom, sofern sie nicht direkt in der Neonazi-Szene involviert sind. Sei es aus Bequemlichkeit oder aus Angst, selbst in die Schusslinie zu geraten.


Keiner weiß, ob diese Gegenden sich zurückerobern lassen

Mitten in Deutschland verfügen die Nazis über Regionen, in denen sie nahezu ungestört arbeiten können. In der Umgebung von Jamel betreiben sie das bundesweite Netzportal MupInfo. Sie bringen NPD, Kameradschaften und nichtorganisierte Rassisten zusammen. Und sie erziehen ihre Kinder ganz in ihrem Sinne, unter ihresgleichen. Seit Jahren.

Bisher hat dieser Skandal über Mecklenburg-Vorpommern hinaus nicht groß Aufsehen erregt. Dabei zeigt Jamel, was auch anderen Orten im Osten und Westen droht, in denen es Nazis schaffen, so viel Angst zu verbreiten, dass Demokraten dort verstummen oder verschwinden müssen.


Kommentar: Es stellt sich die Frage, wie diese rechtsextrem ausgerichteten Individuen überhaupt diesen Grad an Organisiertheit erreichen konnten. Wer stattet sie mit Geld, Material und Logistik aus bzw. ist darin involviert?


Die Nazis kämpfen wieder um die Straßen

Mittlerweile gibt es fast jeden Tag Angriffe auf Asylbewerberheime. Viele Deutsche engagieren sich auf berührende Art für Flüchtlinge und gegen Rassisten. Doch auf der anderen Seite sind nicht erst seit Pegida die Grenzen zwischen der gesellschaftlichen Mitte und dem Rechtsextremismus verschwommen. Gleichzeitig kehrt die rechtsextreme Szene nach ihren politischen Misserfolgen der vergangenen Jahren wieder zu ihrem alten Erfolgsrezept zurück: dem Kampf um die Straßen.

Immerhin: Das wird nicht mehr schöngeredet. Nimmt man die AfD aus (und einige Entgleisungen der CSU), versucht keine demokratische Partei, politisches Kapital aus dem Hass zu schlagen, der sich im Netz und vor den Asylbewerberheimen ausbreitet.


Kommentar: Psychopathen sind es, die aus dem Hass (den sie selbst schüren) Kapital schlagen. Solange ihr Treiben nicht registriert und dessen schädliche Wirkung offen anerkannt wird, können sie damit weitermachen. Solche Individuen sind in allen Parteien zu finden.


Seit der Aufdeckung des NSU hat sich die Einsicht verbreitet, dass der Rechtsextremismus auch eine terroristische Gefahr ist. Trotzdem sind die Reaktionen auf Neonazigewalt noch vergleichsweise verhalten. Wären sie das auch, wenn Islamisten ganze Orte besetzen und ihre Gegner mit Brandanschlägen einschüchtern würden?


Kommentar: Unsere offizielle Kultur propagiert ein Bild, das impliziert, die rechtsradikale Szene organisiere sich aus sich selbst heraus - ohne jegliche Hilfe von anderen Organisationen. Das betrifft auch sog. "islamistische Terroranschläge", von denen angenommen wird, dass sie religiös motiviert sind. Und das führt zu Tendenzen, die den Islam gesellschaftlich im Allgemeinen als radikal verunglimpfen und alle Muslime in einen Topf schmeißen.

In der Tat steht die Radikalisierung rechtsgerichteter Gruppen und sog. "Islamisten" in Verbindung mit der Arbeit des Verfassungsschutzes, mit dem BND und ausländischen Geheimdiensten - allen voran den US-amerikanischen. Die Bürger sollen nicht merken, was wirklich vor sich geht.

Folgende Artikel dazu:

Wenn es jetzt endlich möglich ist, über alle Parteien hinweg über Rassismus und Rechtsextremismus zu sprechen, dann sollten wir uns ein weiteres Stück Ehrlichkeit erlauben: Es gibt Räume in Deutschland, die den Nazis gehören. Und keiner weiß, ob es gelingen wird, sie ihnen wieder zu nehmen. Deshalb ist Jamel ist nicht nur ein kleines, grauenhaftes Dorf in einer abgehängten Region. Es ist eine Frage an ganz Deutschland.

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© zeit.deRechtsmotivierte Angriffe gegen Flüchtlinge nehmen drastisch zu.