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Pola Kinski, älteste Tochter des legendären Schauspielers Klaus Kinski, konnte die Vergötterung ihres Vaters nicht mehr ertragen. Und hat „Kindermund“ geschrieben. Ein erschütterndes Buch, in dem sie ihren Vater der Vergewaltigung bezichtigt.


Klaus Kinski. Ein extremer Charakter, unberechenbar in der Öffentlichkeit, innerhalb von Sekunden schwankend zwischen ekstatischer Begeisterung und absoluter Bosheit. Aber akzeptabel, weil genial.

So schien es.
Das weiße Kleid, Zeichen der Reinheit „Nackt stehe ich vor ihm. (...) Seine Zunge fährt hart über meine Brust, meinen Bauch, er drückt mit dem Kopf meine Schenkel auseinander. (...) Die Zunge wird fordernder, immer brutaler, es tut weh, ich liege starr.“
Es ist Pola Kinski, die diese Zeilen schreibt, Kinskis älteste Tochter. Sie schreibt, sie habe an diesem Tag, im Zimmer eines Münchner Nobelhotels ihr Kommunionkleid getragen, „das Zeichen der Reinheit“.

Der Vorwurf: 14 Jahre Missbrauch

In ihrem Buch „Kindermund“ wirft sie ihrem Vater schwersten sexuellen Missbrauch vor. Die unangenehmen Berührungen begannen demnach, als sie fünf war. Die Vergewaltigungen endeten erst 14 Jahre später. Überprüfen lassen sich die Anschuldigungen nicht. Doch eine andere Tochter Kinskis hegt - ihren schockierten Äußerungen nach zu urteilen - keine Zweifel an deren Wahrheit, und es gibt derzeit keine Anhaltungspunkte für Ungereimtheiten.

Pola Kinski, heute 60 Jahre alt und Schauspielerin, erzählt, wie ihr Vater jede Gelegenheit nutzte. Es ist eine unendlich scheinende Reihe solcher Szenen. Nach jedem Mal steckt sich Pola den Finger in den Hals, um sich zu erbrechen, bis nur noch Galle kommt. „Ich muss die Schuld aus mir herauskotzen.“

Wenn Pola sich wehrt, weint, bittet, strampelt, entgegnet er: „Warum denn nicht, das ist doch süß!“ Hat ihr Flehen Erfolg, quält sie das Gefühl, ihren Vater enttäuscht zu haben.

„Ich bin stumm“

Er habe sie beschworen, niemandem etwas zu sagen, sonst komme er ins Gefängnis, schreibt Pola Kinski. Kurz nach dem Missbrauch in dem Nobelhotel will sie sich dem Pfarrer anvertrauen. Doch sie schafft es nicht. „Ich kann nicht, ich bin stumm.“

Sie lässt es über sich ergehen, so ist es zu lesen, dass Klaus Kinski sie im Alter von 13 Jahren in Schuhe mit hohen Absätzen zwingt, ihr Reizwäsche kauft, „Nylonschlüpfer in Rot, Schwarz, Dunkelviolett, manche unten offen“, und sie drängt, solche Wäsche mit aufreizenden Bewegungen zu präsentieren. Er schminkt Pola, als sie 16 ist, verwuschelt ihr die Haare. „Das ist doch süß! Als hättest du fünf Nächte nicht geschlafen! Verrucht, so versaut!“

Die Welt als Eigentum

Pola schildert seine öffentlichen Wutanfälle und auch, wie entsetzlich sie sich dafür schämte. Als sie ihn zum ersten Mal bei der Arbeit sieht, beim Rezitieren von Gedichten im Deutschen Museum in München, räuspert sich jemand im Publikum. „Die Drecksäue dahinten halten jetzt sofort die Schnauze!“, sagt er da. Einen Bewunderer, der ihn in Öl gemalt hat, beschimpft er als „Kretin“, dessen „Dilettantenschrott“ sofort auf den Müll zu werfen sei. Auch Pola gegenüber rastet er aus, sagt immer wieder, man solle sie (sic) „Wand knallen“, wenn sie etwas fragt, was ihm gerade nicht passt. Pola leidet unter Kinskis Kontrollwahn. Regelmäßig durchwühlt er ihre Sachen und wirft weg, was ihm nicht gefällt. Er flippt aus, wenn der kleinen Pola ein Zauberer übers Haar streicht, ein Portier beim Aussteigen aus dem Wagen helfen will. Er brüllt und tobt, wenn er erfährt, dass die jugendliche Pola einen Freund hat. Er empfindet sadistischen Genuss dabei, ein Foto ihres Freundes zu zerreißen. Er schreit und geifert, bis er „Schaumklümpchen“ am Mund hat. „Wie alles um ihn herum bin ich sein Eigentum. Er kontrolliert mein Leben wie ein Diktator“, schreibt Pola. Und: „Ich glaube, es macht ihn rasend, dass er nicht auch noch die Gedanken kontrollieren kann.“

„Ich habe einen Vater, der mich liebt“

Pola Kinski
© AFPPola Kinski ist Schauspielerin und das älteste Kind des 1991 gestorbenen Klaus Kinski.
Trotzdem kommt Pola von ihrem Vater nicht los. Als sie etwa drei war, haben sich Klaus Kinski und ihre Mutter getrennt. Von ihr und dem neuen Stiefvater Heinrich fühlt sie sich ungeliebt, beschreibt, wie ihre Mutter sie immer wieder ignoriere. Klaus Kinski hingegen überschüttet sie mit wertvollen Geschenken, mit edelsten Kleidern und Schuhen, schreibt seinem „geliebten, süßen Püppchen“, seinem „Engelchen“ Karten. „Für mich ist jede einzelne Karte ein Schatz. Ich lese sie immer wieder und genieße, wie er um mich wirbt. Ich habe einen Vater, der mich liebt.“

Pola ist 16, so schreibt sie jedenfalls, bis sich in die bedingungslose Bewunderung „eine leise Ahnung von Distanz“ schleicht. Aus manchen Beschreibungen spricht nun Hass.
„Er stöhnt auf. Ein Ächzen, ein Wimmern über mir. Das Krötengesicht wird schwarz, es verglüht. Ein uralter Mann löst sich von mir, erhebt sich.“ - „Erst fickt er seine Tochter, dann stemmt er Gewichte. Und die Kondome heute Nachmittag musste ich für meine eigene Vergewaltigung kaufen.“
Ständiger Wohnungswechsel

Pola lebt mal bei ihrer Mutter, mal bei ihrem Vater in Rom oder Madrid, mal bei einer Tante, mal bei einer Freundin, mal in einem Klosterinternat in Kaufbeuren, dessen Regeln sie sich nicht fügt. Später hat sie eine eigene Wohnung.

Sie wird gequält von Schuldgefühlen und Ängsten, die sie nicht kontrollieren kann. Erzwingt panisch den Ausstieg aus einem Flugzeug, weil sie überzeugt ist, mit ihr an Bord würde es abstürzen. „Überfällt mich ein Gedanke, der mir Angst macht, muss ich anhalten, einige Meter zurückfahren und das Gedachte rückgängig machen, sonst wird etwas Schlimmes passieren.“ Sie springt fünzigmal in der Nacht aus dem Bett, um Gott um Vergebung zu bitten.

Spiel mit den Männern

Gleichzeitig tut sie alles, ihre Reize zur Schau zu stellen, spielt mit den jungen Männern um sie herum, um sie im letzten Moment abblitzen zu lassen. Noch lange, bevor sie 18 wird. „Das alles gibt mir ein Gefühl von Macht.“

Als Pola 19 ist, nach der Vergewaltigung, für die sie Kondome kaufen musste, flieht sie vor ihrem Vater aus Rom, zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Sie schreit heraus, was ihr Vater ihr angetan hat. „Alle sind bestürzt, schweigen betreten“, schreibt Pola Kinski. Nur ihre Mutter habe gesagt: „Ich hab es mir ja schon immer gedacht. Du kamst jedes Mal so verstört aus Rom.“

Ihr Stiefvater Heinrich hört ihr zu, „mit unerschöpflicher Geduld, jeden Tag, stundenlang“. Außerdem habe sie sich beruhigt gefühlt von dem Gedanken, „dass ich mich jederzeit umbringen kann, wenn ich es nicht mehr aushalte“.

Erfolg und Angst

Pola nimmt ihre abgebrochene Ausbildung an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule für Schauspiel in München wieder auf. Und feiert im Theater in Hamburg grandiosen Erfolg. Erfolg, den sie kaum genießen kann. Dass der Regisseur sie für eine Rolle vorgesehen hat, in der sie nackt auf der Bühne herumrennen muss, erfüllt sie mit Panik. „Wieso kommt der ausgerechnet auf mich? Hat er etwas bemerkt? Sieht man es mir an? Dünste ich es aus? Riecht man es?“ Und sie hat Angst, dass ihr Vater sie umbringen lässt, jetzt, wo sie ihr Schweigen gebrochen hat. 1991 im Herbst, Pola ist damals 39 Jahre, ruft ihre Mutter an. „Dein Vater ist tot!“ Eine Nachricht, die sie nicht traurig, nicht glücklich gemacht habe. Die Mutter habe dann noch gesagt: „Ach, ich bin ihm nicht böse, er war schon ein toller Kopf!“


Kommentar: Das Verhalten der Mutter ist unfassbar. Um ein solches Phänomen zu verstehen ist es essentiell sich über kognitive Dissonanz, vor allem aber über die systematische Pathologisierung unserer Gesellschaft auf allen Ebenen zu informieren:
Politische Ponerologie - Eine Wissenschaft über das Wesen des Bösen und ihre Anwendung für politische Zwecke.

Kognitive Dissonanz: Warum die Wahrheit so oft zurückgewiesen wird


„Kindermund“ von Pola Kinski erscheint am kommenden Montag im Insel-Verlag. Es ist intensives, verstörendes Buch.
Pola Kinski erzählt ihre Geschichte mit Sprache, die Bilder entstehen lässt, farbige Bilder, Bilder auch, die man nie zu sehen hoffte. In manchen Passagen wirken die Schilderungen ihrer Kindheit so intensiv, so reflektiert, dass sich der Eindruck aufdrängt, die Autorin habe ihren Erinnerungen ganz leise Interpretationen aus heutiger Sicht beigemischt. Was die Wucht des Buches noch größer macht.

Pola Kinski, 60, ist verheiratet und hat drei Kinder.