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© www.globallookpress.com Justin Brosch via www.imago-imagSymbolbild: Rettungswagen in Essen, 29.09.2021
Notfälle durch Erkrankungen des Nerven- und Herzkreislaufsystems haben seit diesem Frühjahr stark zugenommen. Darauf deuten Daten aus sechs deutschen Notaufnahmen hin, die das Robert Koch-Institut (RKI) routinemäßig erhebt. Die oberste Gesundheitsbehörde hält das für Zufall.

Herzmuskelentzündungen, Störungen der Blutgerinnung und Nervenerkrankungen gehören zu den häufiger gemeldeten Verdachtsfällen auf Nebenwirkungen nach einer COVID-19-Impfung. Nun gibt es erste Hinweise darauf, dass Notaufnahmen seit Beginn der Massenimpfungen tatsächlich mehr solcher Fälle verzeichnen als in den beiden Vorjahren. Eine weitere Ursache dafür könnte notwendige Behandlungen sein, die wegen der Coronafälle und des Intensivbetten-Abbaus ausgefallen sind oder verschoben wurden. Letzteres schlägt sich wahrscheinlich derzeit auch in einer Zunahme schwerer Krebserkrankungen nieder.

Teils doppelt so viele Notaufnahmefälle mit Herz- und Nervenproblemen wie 2019

Die im Notaufnahme-Situationsreport des RKI stichprobenartig von sechs Notaufnahmen in Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein erhobenen Daten deuten sogar auf einen signifikanten Anstieg derartiger Notfälle seit Anfang Mai hin. Zu diesem Zeitpunkt weitete die Bundesregierung die Impfungen gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 auf immer mehr Bevölkerungsgruppen aus. Anfang Juni schließlich hob sie die Priorisierung vollständig auf. Ende Mai hatte die EU-Kommission das Vakzin von Pfizer/BioNTech zudem auch für Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren freigegeben, die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) am RKI folgte Mitte August.

Den Diagrammen des Reports zufolge lagen die Notfälle bei kardiovaskulären (Herzkreislauf) und neurologischen (Nerven-)Krankheitsbildern zu Beginn dieses Jahres zunächst deutlich unter dem Niveau von 2019. Das könnte mit den hohen Coronazahlen in diesem Zeitraum zusammenhängen. Einerseits hatten Kranke möglicherweise Angst, sich in der Klinik anzustecken und mieden Behandlungen, was zu einem anschließenden Anstieg der Notfälle geführt haben könnte. Andererseits verschoben viele Kliniken Behandlungen - mit ähnlichen möglichen Auswirkungen.

Mitte Februar bis Mitte März pendelte sich das Aufkommen von Herzkreislauf-Notfällen etwa auf dem Niveau von 2019 ein, lag bis Ende April leicht darüber, um dann abrupt anzusteigen. Seither verzeichnen die meldenden Kliniken täglich zwischen 80 und 100 solcher Notfälle. Zwei Jahre zuvor variierte die Anzahl der Notaufnahmen wegen Herzkreislaufproblemen pro Tag indes zwischen 50 bis maximal etwa 80 Fällen. Im vergangenen Jahr registrierte das RKI mit 60 bis 80 Fällen pro Tag ebenfalls viel weniger Notaufnahmefälle.

Ähnlich verhält es sich mit den neurologischen Notfällen. Zwischen Anfang November 2020 und Ende Januar gab es demnach deutlich weniger Fälle als 2019. Bis Ende März blieben sie grob auf dem Niveau der beiden Vorjahre, einen weiteren Monat lagen sie mäßig, aber doch deutlich darüber, um dann, etwa mit Beginn des Monats Mai, massiv anzusteigen und sich auf einem hohen Level einzupendeln. Vor zwei Jahren verzeichneten die sechs Krankenhäuser hier ebenfalls tägliche Fallzahlen zwischen 50 und 80. Seit Mai 2021 liegen sie durchweg darüber und stiegen teils bis auf über 100 Fälle an.

Atemwegserkrankungen korrelieren nicht mit Coronazahlen

Merkwürdige, irgendwie nicht so ganz zur Pandemie-Situation passende Dinge zeigt derweil auch die graphische Darstellung der Notaufnahmen mit Atemwegserkrankungen: Obwohl das Coronavirus SARS-CoV-2 ein Atemwegserreger ist, sank die Zahl der Notfälle von etwa Mitte November 2020 bis Mitte Januar 2021 - also inmitten der sogenannten zweiten Welle - rapide unter das Niveau von 2019. Seit Ende April 2021, also nach der sogenannten alljährlichen Grippewelle, verzeichnen die Kliniken mehr Notfälle dieser Art als vor zwei Jahren. Während die sechs Kliniken damals etwa 20 tägliche Aufnahmen meldeten, verzeichneten sie seit dem Frühjahr bis Anfang November zwischen 25 und 40 Notfällen pro Tag.

Letzteres ist jedenfalls für die warme Jahreszeit nicht mit den Coronazahlen zu erklären, wohl aber mit einem erhöhten Aufkommen weiterer Atemwegserreger außerhalb ihrer eigentlichen Saison. Mediziner brachten dies vor allem mit einer Schwächung des Immunsystems insbesondere bei Kindern durch die Coronamaßnahmen in Verbindung. Damit begründete kürzlich die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gegenüber der Autorin die starke Zunahme der intensivmedizinisch behandelter Kinder. Seit Anfang September befinden sich auf den Intensivstationen bis zu 25 Prozent mehr Kinder als im Herbst vor einem Jahr.

Was aber durchaus verwundert: Während der Hochzeit der Coronafälle in Kliniken im vergangenen Spätherbst und Winter wäre eigentlich eine Zunahme bei den Notfällen, die mit Atemwegserkrankungen eingeliefert werden, zu erwarten gewesen. Das Gegenteil war allerdings der Fall.

RKI: Stichprobenerhebung zu klein und ungenau für Rückschlüsse

Eine plausible Erklärung für diese Merkwürdigkeiten lieferte das RKI auf Anfrage der Autorin nicht. Schwankungen im Zeitverlauf der Fallzahlen könnten verschiedenen Ursachen haben, überlegte RKI-Sprecherin Ronja Wenchel. So sei etwa die Stichprobe sehr klein. Dies führe dazu, so Wenchel, "dass strukturelle Änderungen sich in deutlichen Veränderungen in der Zeitreihe bemerkbar machen können, ohne dass tatsächlich mehr Personen in den Notaufnahmen vorstellig wurden." Damit meint sie beispielsweise "ein verändertes Kodierverhalten von Vorstellungsgründen und Diagnosen", aber auch "veränderte Prozesse bei der Ersteinschätzung und Patientensteuerung im Rahmen der Coronapandemie".

Die Sprecherin nutzte auch für weitere Erklärungen den Konjunktiv nach dem Motto: "Es könnte sein, dass..." Man müsse etwa beachten, dass es sich nicht um Diagnosen, sondern nur Vorstellungsgründe handele, weshalb eine endgültige Bewertung nicht möglich sei. Außerdem lasse der Report keine Rückschlüsse auf die Schwere der Erkrankungen zu. Es könne etwa sein, dass sich jemand "nur" mit Kopfschmerzen vorstelle und deshalb in die Kategorie "neurologische Vorstellungsgründe" falle.

Möglich sei natürlich auch, spekulierte Wenchel weiter, dass "verschobene Notaufnahmebesuche während des Lockdowns" eine Rolle spielten, was die Zunahme der Fälle erklären könne. Dann fokussierte sie auf die Berichterstattung zur AstraZeneca-Impfung. Dass danach Hirnvenen-Thrombosen auftraten und die Öffentlichkeit darüber informiert wurde, mache es "denkbar, dass es vermehrt zu Vorstellungen wegen Kopfschmerzen gekommen ist." Aber Kopfschmerzen seien eben nicht gleich Hirnvenen-Thrombose. Somit lasse sich aus diesen Daten weder ein genereller Anstieg von Herzkreislauf- und Nerven-Erkrankungen ableiten noch ein etwaiger Zusammenhang mit dem Impfungen.

PEI: Tausende Verdachtsmeldungen mit möglichem Zusammenhang

RKI-Sprecherin Wenchel schlug vor, für die Beobachtung von Impfnebenwirkungen die Sicherheitsberichte des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) heranzuziehen. In seinem jüngsten Bericht listet das Institut unter der Rubrik "Sehr seltene Nebenwirkungen bzw. Komplikationen durch die Impfungen" einige Reaktionen auf, die in die Kategorie Herzkreislauf- und Nerven-Erkrankungen fallen oder fallen könnten.

Anerkannt als solche, "sehr seltenen Nebenwirkungen" sind etwa anaphylaktische Schocks, Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen, Thrombosen (Blutgerinnsel-Bildung) mit oder ohne Thrombozytopenie (Autoimmunreaktion gegen die eigenen Blutplättchen, die innere Blutungen auslösen kann) und das sogenannte Guillain-Barré-Syndrom (GBS), eine durch Autoimmunreaktion hervorgerufene lebensgefährliche Rückenmarksentzündung, die zu dauerhaften Lähmungen bis hin zum Tod führen kann.

Das PEI verzeichnete in seinem jüngsten Bericht bis zum 30. September 2021 insgesamt 930 Herzentzündungen nach einer Impfung mit dem Pfizer/BioNTech-Vakzin, 238 weitere nach Moderna, 61 nach AstraZeneca und 27 nach einer Spritze mit dem Vakzin von Johnson&Johnson. Jüngere Männer sind davon besonders häufig betroffen. Auch 98 solcher Fälle unter Jugendlichen zwischen zwölf und 18 Jahren meldete das PEI. Insgesamt seien bis Ende September sechs Männer und drei Frauen im Alter von 35 bis 84 Jahren daran verstorben. Bei drei weiteren verstorbenen Geimpften wurde posthum eine Herzentzündung diagnostiziert.

Das PEI berichtete ferner von 417 lebensgefährlichen anaphylaktischen Schocks nach einer Impfung. Außerdem seien 255 GBS-Fälle aufgetreten, 17 dieser Geimpften landeten damit auf der Intensivstation, sechs Fälle verliefen tödlich. Des Weiteren starben laut PEI 16 Frauen und 13 Männer nach einer Impfung mit einem Vektorvakzin sowie vier Frauen und ein Mann nach einer mRNA-Impfung an einer Thrombose mit Thrombozytopenie. Insgesamt traten demnach mehr als 200 Fälle solch gefährlicher Reaktionen auf.

Weitere rund 400 Geimpfte wurden dem PEI als Verdachtsfälle mit Blutplättchenmangel gemeldet, der zu inneren Blutungen führen kann, darunter auch drei weibliche Minderjährige. Außerdem führt das Institut rund 800 Geimpfte mit Lungenembolie auf und knapp 200 mit einer Hirnvenen-Thrombose. Bei Kindern und Erwachsenen berichtet das PEI zudem über Krampfanfälle, Gesichtslähmungen, Herzrhythmusstörungen und Nervenschmerzen; besonders häufig traten demnach Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen auf.

Fehlende Untersuchungen sind das Problem

Berichte über die vom PEI gemeldeten Verdachtsfälle führen häufig zu Aktionen selbsternannter Faktenchecker, die mit sozialen Medienplattformen zusammenarbeiten und so für Löschungen von Beiträgen und Sperren von Nutzern wegen angeblicher Verbreitung von Fehlinformationen sorgen. Ihr Hauptargument: Es handele sich nicht um nachgewiesene Nebenwirkungen, sondern lediglich Verdachtsfälle.

Damit haben sie zwar Recht. Das Problem sind aber die fehlenden Untersuchungen. Obduktionen bei nach Impfung Verstorbenen werden beispielsweise nur in seltenen Ausnahmefällen durchgeführt. Nach Angaben des PEI gegenüber der Autorin sind dafür allein die örtlichen Behörden zuständig, die allerdings oft zugleich massiv für das Impfen gegen COVID-19 werben. Das PEI selbst könne gar keine Untersuchungen in Auftrag geben, teilte eine Sprecherin der Autorin mit.

Somit ist es zugleich eine Tatsache, dass Zusammenhänge der meisten Meldefälle mit den Impfungen eben auch nicht ausgeschlossen sind. Wo nichts untersucht wird, kann auch nichts gefunden werden, weder in die eine noch in die andere Richtung. Eindeutig ist jedenfalls festzustellen, dass weitaus mehr schwere Verdachtsfälle bis hin zum Tod bezüglich der COVID-19-Impfstoffe gemeldet wurden, als in den 21 Jahren davor zu herkömmlichen Vakzinen. Warum das kein Anlass für die Behörden ist, hier näher zu prüfen, zumal das RKI die Zunahme von Notfällen verzeichnet, die damit im Zusammenhang stehen könnten, entzieht sich jedoch der Kenntnis der Autorin.