Morality, good and evil, devil and angel
In der Diskussion um die Corona-Maßnahmen geht es meist - und durchaus zu Recht - um die Verhältnismäßigkeit. Ist die Gefahr durch das Virus wirklich so groß, dass sie die beispiellosen Grundrechtsbeschränkungen rechtfertigt?

Hier sehe ich ein großes Problem: Die Diskussion um die Maßnahmen zeigt, dass wir überhaupt nicht mehr zu verstehen scheinen, warum es unsere Grundrechte überhaupt gibt, allen voran die Menschenwürde und die Freiheitsrechte. Das hat zur Folge, dass viele Menschen - und darunter wahrscheinlich leider auch viele Juristen - Verweise auf das Grundgesetz als bloße juristische Spitzfindigkeiten abtun. Nach dem Motto: Hier geht es doch um Menschenleben, was wollen Sie eigentlich? Warum kommen Sie mir mit subtilen juristischen oder rechtsphilosophischen Argumenten? Dass Sie sich in Ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen, ist ja wohl egal, wenn dadurch Leben gerettet werden?

Solche Argumente lassen uns oft sprachlos zurück. Aber wir können nicht wirklich den Finger auf das legen, was uns daran stört. Meist bleibt als einzige Verteidigung, darauf zu verweisen, dass das Virus doch recht harmlos sei. Damit implizieren wir aber auch, dass wir die Maßnahmen akzeptieren würden, wäre die Gefahr tatsächlich so groß wie behauptet. Aber ist das so? Nehmen wir einmal an, es wäre zweifellos klar, dass Covid-19 etwa 10% der Bevölkerung dahinraffen wird. Würden Sie dann akzeptieren, dass Sie Ihre Großeltern oder Enkel nicht mehr in den Arm nehmen dürfen? Dass Sie nicht selbst eine Abwägung treffen dürfen zwischen dem Risiko einer Erkrankung und dem Wunsch, Ihre Eltern oder Enkel zu sehen? Vielleicht, weil Sie oder Ihre Angehörigen keinerlei Symptome haben und Sie nicht aus Angst vor dem Tod das aufgeben möchten, was das Leben überhaupt erst lebenswert macht? Oder würden Sie es sich verbieten lassen, einen Freund zu besuchen, dem es schlecht geht und der Sie dringend braucht? Oder Ihre Eltern auf dem Sterbebett zu begleiten? Würden Sie akzeptieren, dass man Sie, obwohl Sie kerngesund sind, gegen Ihren Willen und ohne Einzelfallabwägung in Quarantäne steckt? Oder dass man Ihnen verbietet, in die Kirche zu gehen, um zu beten - vielleicht ja auch für die Genesung eines Angehörigen?

Wenn Sie auf eine dieser Fragen mit "nein" antworten, haben Sie ein Problem: Wie rechtfertigen Sie diese Einstellung gegenüber dem Totschlag-Argument, es gehe doch um Leben und Tod? In der heutigen Welt scheint uns das Wissen zu fehlen, um unser Bauchgefühl zu begründen, dass manche Dinge einfach niemals verboten, manche Freiheiten niemals beschnitten und manche Dinge niemals vom Staat diktiert werden sollten.

Gehen wir also einen Schritt zurück und klären wir ein paar Dinge über den philosophischen Hintergrund unserer westlichen Verfassungen und was das mit den Corona-Maßnamen zu tun hat.

Höhere und niedrigere Freuden

John Stuart mill
John Stuart Mill
Was derzeit in der öffentlichen Diskussion offenbar wird, ist eine rein utilitaristische Sicht auf Ethik (wenn überhaupt), wie sie Jeremy Bentham im späten 18. Jahrhundert vertrat. Es geht darum, das größte Glück einer möglichst großen Anzahl von Menschen zu erreichen. Das ist sozusagen oberstes Ziel. Daher zählt man die Toten, misst die wirtschaftlichen Folgen und so weiter, wobei scheinbar der Tod eines Menschen, völlig losgelöst vom Kontext, immer als schlimmstes Ergebnis (Reduktion von Glück) gewertet wird.

Aber diese ganze Idee löst sich in all die bekannten ethischen und metaphysischen Probleme auf, wenn man nach der Definition von "Glück" oder "Freuden" fragt. Wiegt ein Tod schwerer als tausend Arbeitslose? Wie misst man den negativen Wert eines Todesfalls überhaupt im Sinne von "Freude"? Ein Jahr Lebensverlängerung für einen alten Mann im Vergleich zu 10 Menschen, die ihren Glauben ein Jahr lang nicht ausüben können? Zwei durch den Lockdown ruinierte Familien vs. ein toter Opa? Offensichtlich bringt uns das nicht weiter. Es führt kein Weg daran vorbei, die schwierige Frage zu stellen: Was ist Glück? Was ist Freude?

Selbst John Stuart Mill, der allgemein als utilitaristischer Denker gilt, war viel zu klug, um auf die reine "Lustmaximierungs"-Doktrin seines Mentors Bentham hereinzufallen, und er hat sie so sehr modifiziert, dass sie mit Benthams simplistischer Formel nicht mehr viel zu tun hat. Für Mill gibt es höhere und niedrigere Freuden, und die höheren Freuden sind vorzuziehen, auch wenn sie zu Unbehagen führen können. Dies impliziert, dass höhere Formen der Freude mit Risiken verbunden sein können (und es oft auch sind). Heldentum ist ein extremes Beispiel dafür, dass man an einer Tätigkeit sterben kann, die einem die höchste Form der Freude bereitet. Aber wir alle wissen aus unserem täglichen Leben, wie Freuden höherer Art riskant und dennoch erstrebenswert sind - von der Herausforderung, auf dem Mountainbike über seine Grenzen hinauszugehen, bis hin zum Eingehen von Risiken zum Wohle Anderer.

Denken Sie an eine alte zerbrechliche Oma. Sie könnte einfach verlangen, auf Morphin gesetzt zu werden und im Bett zu bleiben - sicher ein großes "Glück"! Aber nur wenige Omas würden dies verlangen, und wir ermutigen solches Verhalten mit Sicherheit nicht, denn wir erkennen den Unterschied zwischen niederen und höheren Freuden instinktiv, von dem Mill gesprochen hat. Stattdessen ermutigen wir die Oma, allein in den Supermarkt zu gehen, auch wenn ein hohes Risiko besteht, dass sie stürzt und stirbt. Oder dass sie sich eine Grippe einfängt und stirbt. Oder die Grippe verbreitet und andere tötet. Oder an der Erkältung stirbt. Wir ermutigen solches risikohaftes Verhalten, weil wir wissen, dass eine möglichst autonome Lebensweise der Oma eine höhere Form der Freude bereitet, als auf Morphium in ihrem Bett dahinzuvegetieren.

Immanuel Kant und die Menschenwürde

Immanuel Kant
Immanuel Kant
Aber können wir objektiv zwischen höheren und niedrigeren Freuden unterscheiden? Immanuel Kant wies darauf hin, dass die Autonomie des Willens hier ein entscheidendes Element ist: Wenn wir frei auf der Grundlage unseres rationalen Geistes handeln, im Gegensatz zu bloß von außen kommenden Impulsen und Wünschen, dann können wir moralisch handeln. Dies führt, wenn man so will, zu einer höheren Form der Freude. Und das entspricht sicherlich dem gesunden Menschenverstand: Zum Beispiel würden nur wenige Menschen leugnen, dass es eine niedrigere Form der Freude ist, den ganzen Tag Kuchen zu essen, im Vergleich zu der Freude, die man empfindet, wenn man sich bewusst für eine Herausforderung entschieden hat und diese dann unter Risiken und Schmerzen meistert.

Darüber hinaus glaubte Kant, dass es abstrakte Gesetze gibt, die das moralische Leben regeln, und dass diese Prinzipien unserem Verständnis zugänglich sind. Diese Prinzipien wirken sich dann auf unser Leben aus, weil wir sie als wahr anerkennen - sie werden zu einer Kraft gegen unsere Triebe und niederen Wünsche. Daraus ergeben sich die "höheren Freuden" von Mill. Aber wenn wir erkennen, dass diese moralischen Handlungen unseren niederen Trieben und Impulsen - einschließlich Selbsterhaltung - zuwiderlaufen, dann müssen wir zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Vermeidung von Risiken, ja die Vermeidung des Todes, niemals der wichtigste Wert sein kann. Die Todesvermeidung zum höchsten Wert zu erheben, spiegelt eine verarmte Weltsicht wider, die die Möglichkeit von Kants "Vernunftwelt", die physische Welt zu überwinden und zu bereichern, bestreitet.

Für Kant ist es unsere Fähigkeit, vernünftig zu denken und zu einem gesunden Verständnis der moralischen Gesetze zu gelangen und damit die natürliche Welt zu beeinflussen, die uns menschlich macht - und was uns in einer anderen Welt, der Welt des Geistes, jenseits der Welt der bloßen Erscheinungen agieren lässt. Genau das ist die Idee, die zu unserem Konzept der Menschenwürde und dem nicht verhandelbaren Wert des Menschen führt.

Der Wert eines Menschen

Kants berühmte Empfehlung lautet:
Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.
Dies ist nicht unbedingt als eine praktische Regel zu verstehen, an der wir uns bei unseren täglichen Entscheidungen orientieren können. Vielmehr ist es ein wichtiger philosophischer Punkt: Menschen sollten nie als bloße Objekte behandelt werden, als bloße Werkzeuge zur Förderung irgendeines Ziels, aus dem einfachen Grund, dass sie keine Objekte sind. Sie sind souveräne Subjekte, fähig zu Vernunft und Einsicht sowie zu moralischem Handeln auf der Grundlage des Verstandes. Deshalb sollten wir, mit den Worten des verstorbenen konservativen Philosophen und Kantgelehrten Roger Scruton, anderen Menschen immer von "Ich zu Ich" (engl. "I to I") begegnen. Unsere Wahrnehmung von und unsere Beziehung zu anderen muss immer eine von Subjekt zu Subjekt sein.

Wir alle nehmen es meist als selbstverständlich hin, dass jeder Mensch einen intrinsischen Wert hat. Allerdings ist das keineswegs selbstverständlich, vor allem nicht angesichts gewisser trendiger Theorien, die behaupten, wir seien nur deterministische Maschinen ohne jeglichen freien Willen, die von egoistischen Genen gesteuert werden. Solche Maschinen haben natürlich weder einen intrinsischen Wert noch Rechte - denn sie haben keine Verantwortung. Unsere philosophischen und rechtlichen Traditionen basieren daher auf einem Verständnis des Menschen als freies, verantwortliches Wesen - autonome moralische Akteure in der Terminologie Kants.

Es ist also nicht so, dass jeder Mensch einen intrinsischen Wert hat, weil "jeder Mensch im Herzen gut ist". Wir wissen, dass dies nicht stimmt. Vielmehr besteht dieser intrinsische Wert darin, dass jeder Mensch für seine Handlungen verantwortlich ist und deshalb das Potenzial hat, auf der Grundlage seines Verstandes ethisch zu handeln. Oder auch nicht: Menschen machen Fehler, und zwar oft auf spektakuläre Weise. Aber da es immer die Möglichkeit der Veränderung gibt, immer die Möglichkeit, zu einem tieferen und wahrhaftigeren Verständnis der Gesetze zu gelangen, die die Moral regeln, so klein diese Möglichkeit auch sein mag, hat jedes menschliche Leben immmer einen Wert. (Und natürlich ist es ohnehin oft schwierig ist, Gut von Böse zu unterscheiden.)

Instinktiv erkennen wir die Wichtigkeit des freien moralischen Handelns an. Zum Beispiel können und müssen wir mit Kriminellen umgehen. Aber wir wissen, dass es hier Grenzen gibt: Wir legen Wert auf ein ordentliches Verfahren, auch wenn es vielleicht wirksamer wäre, die Kriminalität zu bekämpfen, indem die Polizei jeden Bürger für jede kleinste Übertretung zusammenschlägt. Oder schlimmer noch, stellen Sie sich vor, wir könnten eine Technologie entwickeln, die jeden Verstand "umprogrammiert", so dass jeder in dem Moment, in in dem er über eine Straftat nachdenkt, schrecklichen Schmerz empfindet. Würden Sie sich wünschen, dass so etwas zum Einsatz käme? Ich hoffe nicht. Dies ist der Stoff für Dystopien, und sie sind alle als Warnung vor totalitären Gesellschaften gedacht, die unter dem Vorwand, "Leben zu retten", unsere tiefsten Werte wie die Autonomie des Geistes grob verletzen und damit jede Legitimität verlieren. Ein Verbrecher, dessen Verstand künstlich gezwungen wird, sich krimineller Gedanken zu enthalten, handelt nicht auf der Grundlage eines Verständnisses der Gesetze, die Kants "Vernunftwelt" regieren. Tatsächlich würden wir dem Kriminellen jede Möglichkeit der Erlösung nehmen, indem er von sich aus zu diesem Verständnis gelangt. Eine solche bewusstseinsverändernde Technologie wäre also eine Monstrosität, egal wie viele Leben sie retten würde.

Wir sehen daher, dass moralische Autonomie und die Idee, dass jeder Mensch einen Wert hat, miteinander verbunden sind. Die Rechte, die uns durch unsere Verfassungen gewährt werden, wie auch unsere Menschenrechte, basieren auf unserem inneren Wert als menschliche Wesen, der Ausdruck von Freiheit und Verantwortung ist: autonome moralische Handlungsfähigkeit. Es ist daher kein Wunder, dass die Freiheitsrechte in unseren Verfassungen einen so herausragenden Platz einnehmen.

Freiheitsrechte haben jedoch praktische und rechtliche Grenzen - und das aus guten Gründen. Man kann nicht tun, was man will, ohne dass es rechtliche Auswirkungen hat. Aber Sie können niemals Ihren inneren Wert verlieren, der auf Ihrer Autonomie als moralische Instanz beruht. Mehr noch: Alle anderen Rechte leiten sich aus diesem Kerngedanken ab. Wenn Sie diesen Kerngedanken aufgeben, verlieren Sie die Rechtfertigung für alle anderen Rechte und damit auch die Rechtfertigung, sie zu schützen. Dazu gehört auch das Recht auf Leben. Ohne Menschenwürde gibt es schlicht kein Recht auf Leben.

Diese Argumentationslinie wurde von den Denkern der Aufklärung entwickelt, weil sie eine rationale Verteidigung des intrinsischen Wertes des Menschen ohne Rückgriff auf die Bibel suchten. In unserer heutigen atheistischen Welt ist sie die wichtigste intellektuelle Verteidigungslinie, die wir gegen moderne Formen staatlicher Tyrannei haben. Schließlich könnten wir in einer Orwellschen Diktatur oder in Huxleys Schöner Neuer Welt sicher und wohlgenährt leben, eingesperrt in unseren Häusern und wie die arme Oma auf Morphium gesetzt (oder, um es böse zu sagen, im Lockdown in unseren Häusern eingesperrt, süchtig nach Netflix, Videospielen und Pornos). Aber im Anschluss an Kant und die liberalen Denker erkennen wir an, dass wir, wenn wir unserer Autonomie als moralische Akteure beraubt werden, unsere Werte als menschliche Wesen verlieren und damit auch alle unsere Rechte - sogar unser Recht auf Leben. Das macht alle Maßnahmen "zu unserer Sicherheit" sinnlos und heuchlerisch.

Dies ist auch der tiefere (kantische) Grund, warum Folter in den meisten zivilisierten Ländern streng verboten ist. Wenn wir zum Beispiel jemanden foltern, um "Leben zu retten", zerstören wir sofort den Grund, warum diese Leben überhaupt gerettet werden sollten. Warum jemanden retten, wenn wir nicht davon ausgehen, dass jedes Leben einen Eigenwert hat, der auf moralischer Handlungsfähigkeit beruht? Und wenn wir das annehmen - wie können wir dann den Geist eines Menschen durch Folter zerstören, seine eigentliche Freiheit als moralischer Akteur?

Grundgesetz und die philosophischen Grundlagen

Der philosophische Hintergrund, den ich soeben dargelegt habe, ist die Grundlage unseres Verständnisses von Grundrechten, auch wenn wir es oft nicht in Worte fassen können. Aus diesem Grund hoffe ich, dass unsere höchsten Gerichte die Verantwortlichen für die gegenwärtigen Corona-Maßnahmen abstrafen werden. Vielleicht ist dies Wunschdenken, wenn man bedenkt, wie korrupt sich unsere Welt gezeigt hat. Aber ich bin überzeugt, dass in einer vernünftigen Welt genau dies geschehen würde. Es steht leider zu befürchten, dass selbst viele Richter nicht mehr verstehen, warum bestimmte Dinge im Grundgesetz stehen, und sie deshalb bereit sind, diese Prinzipien im Krisenfall über Bord zu werfen. Dabei sind doch die meisten Grundrechte Abwehrrechte gegenüber dem Staat und dadurch gerade für den Krisenfall gedacht!

Parliament Assembly Constitution Germany
Der parlamentarische Rat verabschiedet das Grundgesetz
Betrachten wir in diesem Lichte unser Grundgesetz. Erinnern wir uns, dass das Grundgesetz unmittelbar nach den Erfahrungen der Nazizeit geschrieben wurde. Seine Verfasser haben sich große Mühe gegeben, um es jedem Möchtegern-Tyrannen so schwer wie möglich zu machen. Darüber hinaus verwendeten die Verfassungsväter moderne Konzepte, um einige unserer tiefsten Werte zu verankern, im Gegensatz zu älteren Verfassungen, die solche Dinge oftmals nicht ausbuchstabieren. Der Grund könnte darin liegen, dass sich die Menschen früher nicht vorstellen konnten, dass Tyranneien durch ein absolutes Recht auf Sicherheit gerechtfertigt werden könnten, weil sie Begriffe wie die göttliche Natur des Menschen und die Unsterblichkeit der Seele für selbstverständlich hielten. Insofern sie tyrannische Tendenzen zeigten, benutzten sie andere Rechtfertigungen, etwa religiöse und moralistische Argumente. Die Deutschen nach Hitler hingegen wussten genau, wie gefährlich der Vorwand der "Rettung des deutschen Volkes vor Schaden" sein kann und wie er missbraucht werden kann, um uns zu bloßen Tieren zu degradieren, die man durch Freiheitsentzug schützen muss.

Folglich ist der erste Artikel im Grundgesetz nicht das "Recht auf Leben" oder so etwas, sondern er lautet:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Es ist der erste Artikel, und er hat die stärkste Formulierung von allen: "unantastbar". Außerdem gilt dieser Artikel rechtlich gesehen als ohne jegliche Schranken, also Einschränkungen. Er ist auch unveränderlich - nicht einmal durch ein einstimmiges Parlamentsvotum. Er ist "für immer" gültig (Artikel 79). Dies ergibt sich aus der Erfahrung der Weimarer Republik, aber auch unmittelbar aus dem philosophischen Hintergrund, der anerkennt, dass der intrinsische Wert des Menschen als moralisch autonomes Subjekt sogar wichtiger ist als das biologische Leben (das bei Kant lediglich zu der Welt der Erscheinungen gehört) selbst.

Schauen wir uns nun Artikel 2 an:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Beachten Sie, dass (1) wiederum die Freiheit betont. Genauer gesagt geht es um die "freie Entfaltung der Persönlichkeit", was auf die kantische Idee zurückgeht, dass unser innerer Wert in unserer Fähigkeit zu moralischem Handeln liegt. Das ist sozusagen eine Konkretisierung der Menschenwürde. Der ganze Artikel steht unter dem Banner der "persönlichen Freiheiten". Und erst dann, in Absatz 2, kommt das "Recht auf Leben", das übrigens zunächst als ein Abwehrrecht gegen den Staat gedacht ist, aber auch als eine Verpflichtung des Staates, dieses Recht gegenüber Dritten (etwa Kriminellen) zu schützen. Weil die Verfassungsväter wahrscheinlich aber wussten, dass das "Recht auf Leben" für alle möglichen tyrannischen Gesetze missbraucht werden kann, betonen sie auch hier im gleichen Atemzug die Freiheit: "Die Freiheit der Person ist unverletzlich". Im Zusammenhang mit Corona besonders charmant: Die Freiheit der Person begründet unter anderem das Recht, sich frei in Deutschland zu bewegen und das Land zu verlassen. Als hätte der parlamentarische Rat geahnt, was sich alles auf dem Altar des "Rechts auf Leben" opfern ließe! Sehr weise, würde ich sagen. Natürlich kann und muss es auch hier rechtliche Schranken geben, aber ich denke, der Geist des Grundgesetzes ist glasklar. Kein Wunder, nach Hitler.

All dies heißt natürlich, dass das "Recht auf Leben" in keiner Weise als absolut betrachtet werden kann. "Jedes Leben zählt!" ist nach unserer Verfassung kein gültiges Argument. Nein, im deutschen Recht zählt die Würde jedes Menschen. Ein "verwalteter Fleischsack" hat keine Würde und daher auch keine Rechte, nicht einmal das Recht zu leben. Also ohne Würde - nichts. Das heißt, die Verhinderung des Todes ist nicht und kann niemals das wichtigste Ziel des Staates sein.

Wie das Bundesverfassungsgericht diese Gesetze anwendet, können Sie in einem berühmten Urteil aus dem Jahr 2006 sehen, das ein Gesetz für nichtig erklärt, welches den Abschuss von Passagierflugzeugen erlaubte, wenn diese von Terroristen entführt wurden. Aus der damaligen Pressemitteilung:
Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt. Dies geschieht zudem unter Umständen, die nicht erwarten lassen, dass in dem Augenblick, in dem über die Durchführung einer Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG zu entscheiden ist, die tatsächliche Lage immer voll überblickt und richtig eingeschätzt werden kann.

Unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürdegarantie) ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten. Die Annahme, dass derjenige, der als Besatzungsmitglied oder Passagier ein Luftfahrzeug besteigt, mutmaßlich in dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls dieses in einen Luftzwischenfall verwickelt wird, ist eine lebensfremde Fiktion. Auch die Einschätzung, dass die Betroffenen ohnehin dem Tod geweiht seien, vermag der Tötung unschuldiger Menschen in der geschilderten Situation nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz. Die teilweise vertretene Auffassung, dass die an Bord festgehaltenen Personen Teil einer Waffe geworden seien und sich als solcher behandeln lassen müssten, bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden. Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen, führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Denn im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 LuftSiG geht es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind.
Wie wir sehen, folgen sowohl das deutsche Grundgesetz als auch in der Folge die Gerichte einem kantischen Ansatz und sind sogar bereit, für den Schutz der Menschenwürde Leben zu opfern. Eine rein utilitaristische Methode des "Totenzählens" lehnt das Gericht ausdrücklich ab, zumal wir uns nie hundertprozentig sicher sein können, wie eine bestimmte Situation ausgeht. Und dennoch wurde ein solcher primitiver Utilitarismus in der Coronakrise sofort und scheinbar ohne Diskussion angewandt.

Besonders dann, wenn sich herausstellen sollte, dass die Corona-Maßnahmen womöglich Menschen das Leben gekostet haben (Vereinsamung und mangelnde Versorgung in Altersheimen, verschleppte Operationen in Krankenhäusern etc.), dann stellt sich hier womöglich derselbe Sachverhalt dar wie im Fall des Luftsicherheitsgesetzes: Staatliche Eingriffe haben Menschen getötet, um eine Gefahr abzuwenden, und dadurch wurden diese Menschen zu reinen Objekten degradiert. Wie auch bei der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz ist dabei irrelevant, wie viele Menschenleben tatsächlich durch die Maßnahmen gerettet wurden. Eine weitere Parallele: Beim Corona-Virus bestand zu keinem Zeitpunkt die Gefahr, dass die Krankheit die "Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung" nach sich ziehen könnte - selbst nicht nach den düsteren Prognosen zu Anfang der Krise, die zumal auf vager Grundlage erfolgten. Eine zeitlich begrenzte Überlastung des Gesundheitssystems, so tragisch diese auch gewesen wäre, hätte sicher nicht das Gemeinwesen beseitigt.

Was auch immer die rechtlichen Folgen all dessen sein mögen, wie auch immer die Gerichte entscheiden werden: Diejenigen von uns, die instinktiv das Gefühl haben, dass es hier noch eine weitere Ebene gibt, eine Ebene, die mit ethischen und rechtsphilosophischen Grundpositionen zu tun hat, müssen ihre Sprache wiederfinden, angesichts einer übermächtigen Sophisterei, die uns rund um die Uhr entgegenschlägt. Wir müssen alte Grundsätze wieder mit Leben füllen - Grundsätze, die Menschen früher für selbstverständlich hielten. Wir müssen uns gegen moralische Manipulation und Schuldzuweisungen wehren, die alle eine grausame Beleidigung unserer tiefsten Werte darstellen. Wir müssen unsere Welt verteidigen - eine Welt, die über die bloße Erscheinung und die Körperlichkeit hinausgeht und die in Kants Welt des Geistes und der Vernunft eingebettet ist. Wir, die wir die Welt in einem anderen Licht sehen: Bleiben wir dabei und geben wir den Trollen und Schuldzuweisern keinen Zentimeter unseres heiligen Raumes.