WikiLeaks-Gründer Julian Assange stellte am vergangenen Montag mit Projekt K das bisher jüngste Veröffentlichungsprojekt der Enthüllungs-Internetplattform vor und bezeichnete es als die »bisher bedeutendste einzelne geopolitische Veröffentlichung jemals«. Assange war einer Pressekonferenz im National Press Club in Washington aus der ekuadorianischen Botschaft in London via Skype zugeschaltet.
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Vor fast genau drei Jahren hatte Assange noch persönlich vor dem "National Press Club" die Veröffentlichung des »Premieren«-Videos "Collateral Murder" geleitet, in dem amerikanische Soldaten zu sehen waren, die auf irakische Zivilisten feuerten. Dieses Video gilt seitdem als einer der bekanntesten Beiträge von WikiLeaks zum investigativen Journalismus. Seit dieserVeröffentlichung gerieten WikiLeaks und die Mitarbeiter der damit verbundenen Organisation ins Visier zahlreicher regierungsamtlicher Ermittlungen.

Assange selbst hält sich gezwungenermaßen seit fast einem Jahr in der Botschaft Ekuadors in London auf und wartet dort auf die Zusage sicheren Geleits nach Ekuador, das ihm politisches Asyl angeboten hatte. Trotz wiederholter Versuche, den Journalisten und Whistleblower wegen Geheimnisverrats anzuklagen, haben Assange und seine Mitstreiter nun die bisher größte Menge an der Organisation zugespielten Dokumenten freigegeben.

Nach Angaben von Assange besteht "Projekt K" aus annähernd 1,7 Millionen Schriftstücken aus dem diplomatischen Informationsaustausch und Schriftverkehr des amerikanischen Außenministeriums. Dieses Material ist teilweise als geheim eingestuft, dann freigegeben und später erneut als geheim eingestuft worden, was es der Öffentlichkeit praktisch unmöglich macht, sich Zugang zu den unbearbeiteten Kopien zu verschaffen und sie durchzugehen.

»Eine Form der Geheimhaltung bilden die Komplexität und die Zugangsmöglichkeiten von Dokumenten«, erklärte WikiLeaks-Sprecher Kristinn Hrafnsson auf der Veranstaltung am Montag. »Man könnte es so formulieren: Das Vertrauen in die Regierung ist mit diesen Dokumenten schwer erschüttert.«

»Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert auch die Zukunft; und wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit«, zitierte der aus London zugeschaltete Assange aus dem Roman 1984 von George Orwell. »Aufgrund ihrer Kontrolle der Vergangenheit verdient die amerikanische Regierung kein Vertrauen. Das ist die Folge davon, dass diese Informationen durch Geheimhaltung, aber noch öfter durch die schwer zu ziehende Grenze zwischen Geheimhaltung und Komplexität der Öffentlichkeit verborgen sind«.

Die etwa am Montag freigegebenen 1,7 Millionen Schriftstücke stammen aus der Zeit zwischen 1973 und 1976, als Henry Kissinger unter den Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford an der Spitze des amerikanischen Außenministeriums stand. Mit dieser jüngsten Veröffentlichung knüpft WikiLeaks nun an bereits zuvor freigegebene Dokumente des Außenministeriums an, mit deren Veröffentlichung man 2011 begonnen hatte, nachdem der amerikanische Obergefreite und Nachrichtenanalyst Bradley Manning Zugang zu Datenbanken des Militärgeheimdienstes erhalten und zusammen mit dem schon erwähnten Video Collateral Murder etwa 250.000 Dokumente an WikiLeaks weitergeleitet hatte.

Mit dieser Kombination der früheren Memoranden und Berichte des US-Außenministeriums mit den diplomatischen Kabeln Kissingers stelle, so Assange, WikiLeaks nun eine Datensammlung zur Verfügung, die Journalisten einen bisher beispiellosen Zugang zu etwa zwei Millionen Dokumenten gewähre, die ein einzigartiges und neues Bild der Beziehungen der Vereinigten Staaten zu anderen Ländern unter verschiedenen Präsidenten zeichneten.

Diese Infrastruktur, die als »WikiLeaks‘öffentliche Bibliothek der amerikanischen Diplomatie« (»WikiLeaks Public Library of US Diplomacy«, »PlusD«) bezeichnet wird, entspreche dem, was Google eigentlich sein sollte, sagte Assange. »Dieses Suchsystem kann investigativen Journalisten effektive Dienste leisten.«

Mit der Veröffentlichung der von Manning stammenden diplomatischen Dokumente des Außenministeriums hatte WikiLeakseiner breiteren Öffentlichkeit zahlreiches Material vorgelegt, das sich im Wesentlichen auf die amerikanische Außenpolitik ab 2000 konzentrierte. Die Kissinger-Dokumente wiederum bringen vieles über die USA und andere Länder aus einer Zeit ans Licht, in der die westliche Gesellschaft erst langsam die Form annahm, die uns heute vertraut ist. »Die Zeit der 1970er Jahre wird oft als der ›Urknall‹ bezeichnet. Damals entstand die moderne Weltordnung. Eigentlich lassen sich nur zwei Perioden unterscheiden: die Nachkriegszeit und die 1970er Jahre«, sagte Assange auf der Pressekonferenz.

In den 1970er Jahren vollzog sich eine rasante und umfassende Entkolonialisierung, die die Zahl der Länder von zuvor 104 auf annähernd 160 hochschnellen ließ. »Um die Komplexität dieser Entwicklungen zu verstehen, richtete das amerikanische Außenministerium ein System ein, in dem alle Informationen ihrer diplomatischen Vertretungen zusammenliefen«, erläuterte Assange das Projekt K. Heute erfolge die Kontrolle auch entlegenerer Regionen durch das Weiße Haus sehr viel direkter. Aber in den 1970er Jahren »hatten die Beziehungen zwischen den jeweiligen Botschaftern und den Regierungen ihrer Gastländer eine sehr viel wesentlichere Bedeutung«, fuhr er fort. Projekt K trage dazu bei, ein genaueres Licht darauf zu werfen, wie sich diese wechselseitige Beeinflussung in einer Zeit vollzog, in der die USA durch den Vietnamkonflikt, die Watergate-Affäre und den Kalten Krieg weltweit intensiven Gedankenaustausch mit zahlreichen Personen pflegten, die mit sehr unterschiedlichen Problemen zu tun hatten.

»Die USA legten großes Gewicht darauf, ihren Einfluss auf Oppositionsgruppen auszuweiten und entsprechende Kontakte zu knüpfen und Informationen zu sammeln. Teilweise sollten diese damit korrumpiert werden, teilweise wollte man sich Einflussmöglichkeiten für den Fall eines Machtwechsels sichern, in dem man möglichst viele Seiten unterstützte«, fuhr Assange fort. Obwohl man erwarten könnte, dass die Sowjetunion in den 1970er Jahren aufgrund des Kalten Krieges im Zentrum der amerikanischen Aufmerksamkeit gestanden habe, beanspruche dieser »Titanenkampf« zwischen den beiden Ländern nur einen relativ geringen Teil der Aufmerksamkeit des amerikanischen Außenministeriums jener Zeit. Die »Kissinger-Kabel«, die annähernd eine Million Worte umfassen, belegten, dass die USA »aufmerksam die Aktivitäten - oder deren Fehlen - anderer Weltmächte beobachteten«, so Assange. Frankreich, Spanien, Großbritannien, Australien und Schweden nähmen breiten Raum in den Depeschen ein, und selbst heute noch bedeutende Politiker tauchten bereits in den Dokumenten auf.

»Margaret Thatcher starb gestern, und natürlich spielt sie in sehr vielen Berichten eine zentrale Rolle«, meinte Assange und nannte eine Zahl von etwa 400 Berichten und Memoranden im Zusammenhang mit der früheren britischen Premierministerin.

Der heute noch lebende Kissinger wird in mehr als 200.000 Einzeldokumenten genannt. Auch der frühere schwedische Ministerpräsident Carl Bildt, ein scharfer Kritiker der Enthüllungs-Internetseite und heute Außenminister seines Landes, taucht häufig im Projekt K auf.

Gegenüber "RussiaToday" erklärte Hrafnsson auf der Pressekonferenz, weder Kissinger noch der amtierende Außenminister John Kerry hätten bisher auf die Enthüllungen reagiert, und er erwarte dies auch nicht. Assange seinerseits sagte gegenüber RussiaToday, bei offiziellen Ermittlungen gegen dieses Projekt werde man sich wahrscheinlich weniger darauf konzentrieren, ob durch die Veröffentlichung Schäden angerichtet worden seien, sondern die Aufmerksamkeit vor allem der Frage zuwenden, wie es seiner Organisation möglich gewesen sei, diese 1,7 Millionen Dokumente in ihren Besitz und sie in eine entsprechende Ordnung und Lesbarkeit zu bringen, um sie der Öffentlichkeit präsentieren zu können.

»Genau damit war Aaron Swartz beschäftigt. Sollte das amerikanische Justizministerium aufgrund dieser Veröffentlichung gegen uns vorgehen, so wie es versucht hat, uns wegen früherer Veröffentlichungen auch von Dokumenten amerikanischer Botschaften anzuklagen, würde sich ein solcher Versuch wahrscheinlich der gleichen Methoden und Mittel bedienen, wie sie gegenüber Swartz angewandt wurden. Dabei ging es im Kern um die Art der Beschaffung und nicht um die Einstufung des Materials«, ergänzte er.

Hrafnsson berichtete, WikiLeakshabe etwa ein Jahr an Projekt Kund der PlusD-Datensammlung gearbeitet.