Der islamistisch motivierte Anschlag von Nairobi stürzt Kenia in die Krise. Das Land erkennt, dass es mit schwachen Institutionen ins Visier des Terrorismus geraten ist - und will sich wehren.
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Die Fernseh-Ansprache des kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta dauerte 15 Minuten. Er verkündete die Nachricht, die das Land seit vier Tagen ersehnt hatte. Die 16 Terroristen der somalischen Miliz al-Schabab seien überwältigt, fünf dabei getötet und elf verhaftet worden. Doch die Stimme schien vom Schmerz betäubt, die Worte formten sich nur langsam, sein Körper wirkte von den vier Tagen des nationalen Traumas, einer Art "afrikanischem 9/11" ermattet.

"Meine Landsleute, wir wurden schwer getroffen und fühlen großen Schmerz und Verlust, aber wir waren stark, vereint und tapfer", sagte der Präsident vor der kenianischen Nationalflagge, "Kenia hat das Böse überwunden und triumphiert." Seine Familie war direkt betroffen, Kenyatta verlor einen Neffen und dessen Frau.

Seit Samstagmittag hatten sich die radikal-islamischen Terroristen im Westgate-Einkaufszentrum von Nairobi verschanzt. Bei dem Angriff kamen 61 Zivilisten und sechs Soldaten ums Leben. Unter den Opfern befinden sich mindestens 18 Ausländer, darunter sechs Briten sowie Bürger aus Frankreich, Kanada, Australien, Peru, Indien, Ghana, Südafrika, China und den Niederlanden.

Das Einkaufszentrum war ein beliebtes Ziel für Arbeitnehmer und Touristen aus aller Welt. Die immer neuen Bilder der bewaffneten Attentäter und Toten, die von Überwachungskameras und Augenzeugen gemacht wurden, aber auch die der trauernden Angehörigen, werden sich tief in das Bewusstsein der Nation einbrennen.

Die Zahl der Toten wird weiter steigen

Und die Zahl der Toten wird voraussichtlich weiter steigen. Erst am Dienstagnachmittag war das Gebäude unter Kontrolle, so dass mit der Bergung von weiteren Toten begonnen werden konnte. In der Nacht zum Mittwoch seien Dutzende Leichen geborgen worden, berichtete die kenianische Zeitung Standard. Bei den Kämpfen waren drei der sechs Stockwerke eingestürzt, die Arbeiten am kenianischen "Ground Zero" werden sich noch lange hinziehen.

Verstört warten die Menschen auf neue Nachrichten. Denn schon am Montag hatten mehrere Minister die Geiselnahme für so gut wie beendet erklärt, die meisten Geiseln seien befreit - doch danach gab es weitere schwere Feuergefechte. Kenia hat das Vertrauen in seine Sicherheit verloren, aber auch in die Regierung: "Eines der Opfer dieses Anschlages war die Glaubwürdigkeit der kenianischen Behörden", kommentierte das britische Magazin Economist treffend.

Diesmal scheinen sich die Angaben der Regierung zu bewahrheiten, am Morgen war auf den Live-Bildern des Fernsehsenders lediglich leichter Rauch zu sehen, der aus dem Gebäude aufstieg. Angesichts dieses professionellen Anschlags mit internationaler Beteiligung aber bleibt landesweit ein Gefühl der Machtlosigkeit.

Die Angreifer hatten offenbar ein Geschäft in dem Einkaufszentrum angemietet, in dem sie Munition und weitere Ausrüstung im Vorfeld des Anschlags deponierten. So konnten sie sich den Hundertschaften von Armee und Polizei über Tage hinweg widersetzen. Die Nation erkennt, dass sie mit der Kontrolle von Personen und Autos am Eingang allenfalls auf unprofessionelle Einzeltäter vorbereitet war.

Einbrüche im Tourismus erwartet

Auch die Auswirkungen auf die Wirtschaft sind gewaltig. Die Tourismusbranche erwartet Gewinneinbrüche, ausländische Direktinvestitionen könnten deutlich sinken. Am schwersten aber wiegt wohl, dass der Glaube an die Grundfunktion des Staates, den Schutz seiner Bürger, verloren gegangen ist. Beobachter befürchten, der Anschlag könne zu Übergriffen auf in Kenia lebende Somalier führen. Die Geiselnahme ist nur der Beginn einer nationalen Krise.

Präsident Kenyatta gab sich entsprechend kämpferisch, er plant offenbar eine groß angelegte Vergeltung gegen die Hintermänner des Anschlags. Mit der Überwältigung der Geiselnehmer sei "dieser Teil unserer Aufgabe erledigt". Der Al-Schabab-Forderung, die 4000 kenianischen Soldaten aus von der Miliz kontrollierten Gegenden in Somalia sofort zurückzuziehen, will Kenyatta nicht erfüllen.

Al-Schabab hat in den vergangenen Jahren massive Verluste hinnehmen müssen. Die insgesamt 18.000 Soldaten der Afrikanischen Union vertrieben die Terroristen im Jahr 2012 zunächst aus der Hauptstadt Mogadischu und dann aus der strategisch wichtigen Hafenstadt Kismayo, den beiden logistischen Zentren von al-Schabab. In Somalia fällt der Organisation die Finanzierung immer schwerer.

Islamisten dementieren Einsatz von Frauen

Die Kenianer erkennen aber, dass sie mit ihren vergleichsweise schwachen Institutionen und Grenzkontrollen ins Visier eines internationalen Terrornetzwerks geraten sind, das nicht allein von Somalia aus agiert. Nach der Außenministerin zählte auch Kenyatta "zwei bis drei amerikanische Staatsbürger und eine britische Frau" zu den Terroristen. Damit könnte die im Alter von 15 Jahren zum Islam konvertierte Nord-Irin Samantha Lewthwaite gemeint sein.

Sie ist unter der Bezeichnung "Weiße Witwe" bekannt - ihr Lebensgefährte gehörte zu den vier so genannten Rucksackbombern, die vor acht Jahren in London 52 Menschen mit in den Tod rissen. Gegen sie wird seit Jahren wegen mehrerer kleinerer, teilweise vereitelter Anschläge ermittelt, sie reiste unter anderem mit einem gefälschten südafrikanischen Pass ein. Bislang ist unklar, ob die von Kenyatta erwähnte "britische Frau" unter den verhafteten oder getöteten Angreifern ist.

Al-Schabab dementierte diese Angaben. "Wer die Angreifer als Amerikaner und Briten beschreibt, hat keine Ahnung, was in dem Westgate-Gebäude vor sich geht", sagte ein Sprecher der Nachrichtenagentur Reuters. Auch Frauen seien nicht im Einsatz gewesen, das würde den Grundregeln der Organisation widersprechen. "Wir setzen unsere Schwestern nicht in derartigen militärischen Offensiven ein", heißt es in einer der Organisation zugerechneten Twitter-Nachricht.

Allerdings hatten die radikalen Islamisten in den vergangenen Tagen immer wieder teils widersprüchliche Informationen veröffentlicht. Die somalische Miliz gilt als gespalten, eine überwiegend aus einheimischen Kämpfern bestehende Fraktion konkurriert mit international rekrutierten Dschihadisten um das Kommando. Allerdings hat das, so Kenyatta, "Monster des Terrorismus" das Land in einer schwierigen Phase aufgesucht.

Aufarbeitung der Geschichte

Kenia ist mit der Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte beschäftigt. Sowohl Präsident Kenyatta als auch sein Stellvertreter William Ruto müssen sich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten. Ihnen wird vorgeworfen, die Unruhen zwischen rivalisierenden ethnischen Gruppen nach den umstrittenen Wahlen im Jahr 2007 mitorganisiert zu haben. Binnen weniger Wochen starben damals mehr als 1100 Menschen.

Der Prozess gegen Ruto hat bereits begonnen, doch das Gericht unterbrach die Verhandlung wegen des Terroranschlags und genehmigte dem Angeklagten die Rückreise. Kenyatta soll im November in Den Haag erscheinen. Das Land hat deshalb angekündigt, das Weltstrafgericht wegen seiner Fokussierung auf Verbrechen in Afrika zu verlassen. In der Afrikanischen Union diskutieren derzeit mehrere Staaten, ob sie Kenias Beispiel folgen sollten.

Die Prozesse gegen die Politiker bleiben davon rechtlich unberührt. Mit dem Terroranschlag von Nairobi verkompliziert sich die Situation jedoch weiter. Kenyatta und Ruto werden angesichts der innenpolitischen Situation kaum zustimmen, dem Prozess über Wochen hinweg vor Ort zu folgen. Genau das aber verlangt das Rom-Statut.