Atomkraftwerk
© ReutersDas AKW Krümmel an der Elbe hatte diverse kleinere Störfälle zu verzeichnen. Ein erhebliches Erdbebenrisiko besteht in der Region nicht, glaubten Experten bislang.
Das AKW Krümmel an der Elbe hatte diverse kleinere Störfälle zu verzeichnen. Ein erhebliches Erdbebenrisiko besteht in der Region nicht, glaubten Experten bislang. (Foto: Reuters)

Auch in Deutschland kann die Erde heftig wackeln. Laut offiziellen Angaben halten die Atomkraftwerke selbst starken Erschütterungen stand - aber stimmt das wirklich? Bislang ignorierte Studien werfen erhebliche Zweifel an der Bebensicherheit auf.

Tod, Zerstörung, Nachbeben, Strahlengefahr - die Katastrophe in Japan wird minütlich schlimmer. Mitteleuropäer kennen Erdbebendesaster vor allem aus den Medien. Deutschland scheint weit weg zu sein, Atomlobbyisten behaupten, die deutschen AKW seien sicher. Stimmt das?

Fest steht: Nicht nur fragile Erdregionen wie Japan kann es treffen - auch in Deutschland wackelt der Boden alle paar Jahrzehnte und lässt mitunter Gebäude einstürzen. Zuletzt zitterte im April 1992 die Niederrheinische Bucht in Nordrhein-Westfalen mit der Stärke 5,9. 20 Menschen wurden verletzt, Tausende Häuser nahmen erheblichen Schaden.

Was passiert, wenn die Erde dort bebt, wo die deutschen Kernkraftwerke stehen?

Geoforscher äußern ihre Bedenken über mögliche Risiken meist nur hinter vorgehaltener Hand - aus Sorge, als Katastrophenprediger verunglimpft zu werden. Doch Spiegel Online vorliegende Studien zeigen, dass das Erdbebenrisiko hierzulande womöglich unterschätzt wird - aus folgenden Gründen:
  • Risikokarten, die bestimmen, wie robust AKW gebaut sein müssen, könnten mögliche Erdbebenstärken in Mitteleuropa unterschätzen.
  • Behördendokumente zeigen, dass der Erdbebengefahr beim Bau von Industrieanlagen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.
  • Bedrohliche Erdbebenfolgen wie Bodenverflüssigung scheinen bei der Planung vernachlässigt worden zu sein.
  • Der Bau einiger AKW begann vor der systematischen Erkundung des Untergrundes. Neuere Erkenntnisse lassen an der Sicherheit der Architektur zweifeln - trotz Nachrüstung.
Nach den gängigen Risikokarten stehen vier deutsche Kernkraftwerke und ihre benachbarten Atommüllzwischenlager in erdbebengefährdeten Regionen:
  • Neckarwestheim südlich von Heilbronn in Baden-Württemberg,
  • Philippsburg nördlich von Karlsruhe in Baden-Württemberg,
  • Biblis nördlich von Mannheim in Hessen,
  • Gundremmingen östlich von Ulm in Bayern.
Die Gebäude halten möglichen Erdstößen stand, stellten die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) und das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in einem Gutachten fest - im Jahr 2005. Sie seien mit Stahlbeton verstärkt, das möglichen Beben widerstehen könnte.
Vier deutsche AKW in "gelber Zone"

Doch das Umweltbundesamt (UBA) scheint skeptisch, wie Studien aus dem Jahr 2007 zeigen, die Spiegel Online vorliegen. Bei Baustandards von Industrieanlagen werde Naturgefahren "oft wenig Aufmerksamkeit geschenkt", heißt es darin. Ob damit auch AKW gemeint sind, bleibt zwar offen, denn die Bedenken gelten allgemein. Doch auch eine weitere UBA-Studie von 2007 findet deutliche Worte: Betreiber von Industrieanlagen widmeten ihre Aufmerksamkeit eher "technischen Risiken als der Erdbebengefahr, obgleich die Naturrisiken bestehen bleiben", wird dort kritisiert. Seismologen lästern hinter vorgehaltener Hand noch deutlicher: Manche Bauingenieure hätten von der Erdbeben-Baunorm noch nie gehört.

Biblis B, Philippsburg 1, Neckarwestheim 1 und Grundremmingen B liegen in der "gelben Zone". Diese Meiler müssen demzufolge Erdbebenintensitäten bis zur Stärke 8 aushalten. Bei solchen Erschütterungen werden Gebäude einfacher Bauart schwer beschädigt. Im Gegensatz zur Richterskala, die ein Maß für die bei Erdbeben freigesetzte Energie ist, beschreibt die zwölfstufige Intensitäten-Skala die Einwirkung der seismischen Wellen auf Gegenstände.

Das größte Erdbebenrisiko in Deutschland droht hier:
  • entlang des Oberrheingrabens,
  • im Raum Köln,
  • im Vogtland,
  • auf der Schwäbischen Alb und
  • nahe der Schweizer Grenze bei Basel.
Dort, im äußersten Südwesten Deutschlands, muss nach bisherigen Daten sogar mit Beben der Stärke 7 auf der Richterskala gerechnet werden - das entspricht Erschütterungen der Intensität 9 bis 11. Bei derartigen Erdstößen stürzen schwächere Bauten ein, selbst stabile Häuser werden schwer beschädigt. Im Hochrisikobereich liegen drei Schweizer Kernkraftwerke nahe der deutschen Grenze. Sie würden die erwarteten Erschütterungen nach Angaben der Schweizer Regierung aushalten.
Sicherheitsaufschlag ist Verlegenheitsmaßnahme

Die dramatischen Geschehnisse in Japan jedoch haben gezeigt, dass solche Behauptungen nicht stimmen müssen. Wie sich nun herausstellte, waren die Unfall-AKW im Norden Japans für das Beben der Stärke 9 (das entspricht Erschütterungsintensitäten von bis zu Stärke 12), die am Freitag gemessen wurden, nicht ausgelegt - nicht erst die Tsunamis haben die Kraftwerke beschädigt. Die AKW sollten lediglich Schlägen der Stärke 8 widerstehen können. Ob deutsche Kraftwerke tatsächlich für alle hierzulande möglichen Beben gewappnet sind, erscheint nun ebenfalls zweifelhaft.

Bei der Ermittlung des Bebenrisikos gilt die Faustregel: Je heftiger die Beben in der Vergangenheit, desto höher die Erdbebengefahr in dem betroffenen Gebiet. Das Erdbebenrisiko in Deutschland wird für 100.000 Jahre berechnet - Reaktoren sollen auch sehr seltenen Starkbeben widerstehen können. Für gewöhnliche Hochhäuser in deutschen Erdbebengebieten gelten weitaus laxere Vorschriften: Deren Baupläne orientieren sich hinsichtlich der Erdbebensicherheit an Beben mit einer Wiederkehrwahrscheinlichkeit von lediglich 475 Jahren.

Doch die Kenntnisse über frühere Beben sind mangelhaft. Forschern stehen meist nur Erdbebendaten aus den letzten 1200 Jahren in Deutschland zur Verfügung - und die sind zudem lückenhaft. Deshalb wird zu den erwarteten Maximalbeben pauschal ein Sicherheitsaufschlag von einer Intensitätenstärke addiert - eine Verlegenheitsmaßnahme.

Unterschätztes Risiko

Neuere Forschungsergebnisse jedoch zeigen, dass besonders in drei Regionen das Erdbebenrisiko unterschätzt werden könnte:
  • Norddeutschland,
  • Südwestdeutschland / Nordschweiz,
  • Niederrheinische Bucht.
In einer Studie, die in Kürze im Fachmagazin "International Journal of Earth Science" erscheinen wird, zeigen zwei Geoforscher der Technischen Hochschule Aachen (RWTH), dass im Gegensatz zur Lehrmeinung auch in Norddeutschland stärkere Beben drohen. Die Region, in der sieben Kernkraftwerke und das geplante Atommülllager Gorleben liegen, gilt bislang als nahezu erdbebenfrei; lediglich leichtes Zittern wird hin und wieder registriert. Nach Angaben der BGR werden AKW dort so gebaut, dass sie Erschütterungen der Intensität 7 aushalten.

Die neue Studie der RWTH-Forscher Klaus Reicherter und Gösta Hoffmann jedoch zeigt, dass die Vorkehrungen womöglich nicht ausreichend sind: "Wir können nachweisen, dass sich in Norddeutschland moderate bis starke Erdbeben ereignet haben", sagt Reicherter zu Spiegel Online.

Schon länger gab es Gerüchte über stärkere Beben in Norddeutschland in früheren Zeiten: Im Jahr 1323 etwa soll ein Salzstock kollabiert sein, der Boden habe mit der Intensität 6 gewackelt, rekonstruierten Forscher. 1410 hat es bei Prignitz in Nordwestbrandenburg offenbar einen noch deutlich stärkeren Schlag gegeben. Vom "Zusammenfallen von Türmen, Burgen und Häusern" berichten historische Quellen. Noch in Schleswig-Holstein seien "Menschen erschrocken".

Verborgene Nähte im Untergrund

Hoffmann und Reicherter haben nun Bodenschichten auf Usedom untersucht, die überraschend deutliche Verwerfungen aufweisen: Klüfte durchziehen den Boden, mancherorts wirkt der Lehm wie zerlaufenes Kerzenwachs. Das seien die Spuren von Erdbeben, meinen die Forscher: Bei Erdbeben werden Bodenschichten versetzt - und manchmal zerläuft die Erde auch wie eine Flüssigkeit. Das Bodenzittern schüttelt das Wasser aus der Erde, das sich in Seen an der Oberfläche sammelt und fatale Rutschbahnen bildet.

Die nun entdeckten Bebenspuren auf Usedom seien mehr als 2000 Jahre alt, sagt Reicherter. Vermutlich seien sie auf nacheiszeitliche Setzung zurückzuführen: Von der Auflast der Gletscher befreit, ruckte der Boden nach oben. Die zugehörigen Bebennähte in der Erdkruste seien jedoch unbekannt, räumt Reicherter ein. Möglicherweise lägen auch anderswo in Norddeutschland Erdbebenherde im Untergrund.

Starkbeben an verborgenen Klüften abseits der Grenzen von Erdplatten sind ein gefürchtetes - wenn auch seltenes - Phänomen: 1811 und 1812 etwa trafen Starkbeben der Stärke 7 das Umland der Stadt Memphis in den USA. Bis heute suchen Geologen nach der verborgenen Nahtzone im Erdinneren, die die Beben verursacht hat. Auch in Norddeutschland sei die Erdkruste anscheinend "geschwächt", schreiben Reicherter und Hoffmann. Im Abstand von vermutlich mehr als 5000 Jahren seien "weitere seismische Schocks möglich". Weil nicht bekannt sei, wann es das letzte Mal gekracht hat, sei aber unklar, wann es das nächste Mal so weit ist.

Geologen verhindern AKW

Auch im Rheinland wurde das Erdbebenrisiko unterschätzt, wie die Entdeckung von geologischen Verwerfungen Ende der neunziger Jahre offenbarte - was die Inbetriebnahme eines Reaktors verhinderte: Das AKW Mülheim-Kärlich ging nie ans Netz, weil Geologen in der Nähe Spuren schwerer Beben in der Erde gefunden hatten.

Nun häufen sich auch in der Kölner Bucht Hinweise, dass das Risiko unterschätzt wird: Das stärkste Beben hatte dort laut historischen Aufzeichnungen die Stärke 6,1; es ereignete sich 1756 in Düren. Doch es häufen sich archäologische und geologische Befunde, die zeigen, dass es in der Vergangenheit deutlich stärker gebebt haben könnte. Sogar Stärke 7,0 sei denkbar, sagt Klaus-Günter Hinzen, Seismologe an der Universität Köln.

Hinzen und seine Kollegen haben Verschiebungen in römischen Mauern und Erdschichten entdeckt, die sie auf Starkbeben zurückführen. Die Schäden eines Siebener-Bebens lägen nach Berechnungen von Versicherungen vermutlich weit über hundert Milliarden Euro. Die Folgen wären womöglich schlimmer als die des Erdbebens im japanischen Kobe 1995.

Risikokarten nur vorläufig gültig

Die Erkundungen am Niederrhein zeigen, dass Erdbebenkarten immer nur vorläufig gültig sind. Die Entdeckung eines einzigen Starkbebens in der Vergangenheit macht die Karten obsolet. Das gibt auch zu denken, wenn es um die Schweizer Reaktoren an der deutschen Grenze geht. Ihre Bemessungsgrundlage ist das Beben von Basel 1359, als die Erde mit der Stärke 6,9 erzittert sein soll. Noch 100 Kilometer entfernt gingen damals Häuser zu Bruch.

Solch einen Schlag verkrafteten die dortigen Meiler, betont die Schweizer Regierung. Doch was ist, wenn die Erde stärker bebt als vermutet? Ausschließen lässt sich das nicht, wie die Forschungsgeschichte am Niederrhein zeigt. Doch selbst wenn das Basel-Beben von 1359 tatsächlich das Maximum war, wären die Folgen nach Meinung von Experten womöglich schlimmer als erwartet. "Für sogenannte Sekundäreffekte gibt es keine klare Risikoabschätzung", sagt Hinzen. So könne etwa die Verflüssigung des Bodens bei Erdbeben unberechenbare Folgen haben. Gefahrenkarten berücksichtigen aber nur mögliche Erschütterungen.

Ob die Katastrophe in Japan dazu führen wird, dass solche Bedenken nun konsequent aufgegriffen werden, muss sich zeigen. Erste Inspektionen laufen immerhin: Das Bundesumweltministerium hat jetzt Analyseteams in die AKW Philippsburg und Neckarwestheim geschickt, um die Kraftwerke einer "Sonderprüfung" zu unterziehen.