Atomkraftwerk,kalifornien
© REUTERSDas Atomkraftwerk San Onofre steht am kalifornischen Strand und in unmittelbarer Nachbarschaft mehrerer tektonischer Verwerfungen. Eine davon, die Cristianitos-Verwerfung, ist sogar sichtbar. Wenige hundert Meter von den Reaktoren entfernt klafft eine Spalte im Felsen.

Auch in den USA geht die Angst vor einem großen Erdbeben um, in Kalifornien liegt die Wahrscheinlichkeit bei 99,7 Prozent. Menschen, Häuser und Schnellstraßen sind in Gefahr - und zahlreiche Atomkraftwerke, die dicht an tektonischen Spalten stehen.

Das kalifornische Atomkraftwerk San Onofre steht zwischen dem Freeway I-5 und dem Strand. Seine zwei Kuppeln ragen über die Pazifikbrandung, flankiert von einer Steilküste, an der Surfer herunterklettern. Vor 42 Jahren nördlich von San Diego erbaut, ist die Anlage eines der ältesten und größten AKW in den USA.

San Onofre hat aber auch noch eine andere Besonderheit: Es liegt in unmittelbarer Nachbarschaft mehrerer tektonischer Verwerfungen. Eine davon, die Cristianitos-Verwerfung, ist sogar sichtbar. Wenige hundert Meter von den Reaktoren entfernt klafft eine Spalte im Felsen, Holzschilder markieren einen Wanderweg für Hobby-Geologen.
Keine Sorge, versicherte der AKW-Betreiber, der Stromkonzern Southern California Edison, am Montag. Erstens seien die Verwerfungen entweder "nicht aktiv" oder zu weit entfernt. Zweitens könne die Anlage einem Erdbeben der Stärke 7.0 widerstehen. Drittens sei sie von einer acht Meter hohen Tsunami-Schutzmauer abgesichert.

Seit der Katastrophe im bebenerprobten Japan glaubt solchen Beschwichtigungen hier jedoch keiner mehr. Japan, sagt Richard McCarthy, der Direktor der California Seismic Safety Commission, "könnte auch Kalifornien sein."
In der Tat wirkt das von Verwerfungen gemaserte Kalifornien wie ein Symbol für Amerikas Erdbebenangst. Einige der traumatischsten Beben der westlichen Welt ereigneten sich dort: 1906 in San Francisco (7.9), 1933 in Long Beach (6.4), 1989 in Loma Prieta (6.9), 1994 in Northridge (6.7). Die Frage sei nicht, ob die nächste Katastrophe komme, sagte der Geologieprofessor Donald Prothero der "Los Angeles Times" am Montag, "sondern wann".

Diese Prophezeihung ist altbekannt. Doch die Geschehnisse in Japan jagen den Amerikanern neuen Schrecken ein. Den ganzen Montag über wimmelten die US-Nachrichtensender vor Experten, die die Gefahren einer ähnlichen Katastrophe in den USA beschworen.

Bebenwahrscheinlichkeit 99,7 Prozent

Denn die USA sind, trotz ihrer fast manischen Besessenheit mit Erdbeben, relativ ungewappnet: "Im Vergleich zu Japan", warnte der Seismologe Tom Heaton im TV-Network CBS, "sind wir nicht annähernd so gut vorbereitet." Der Katastrophenexperte Irwin Redlener von der Columbia University drückte es sogar noch krasser aus: "Wir sind gänzlich unvorbereitet", sagte er am Abend auf CNN.

So existiert ein Vorwarnsystem wie in Japan in den USA bisher nur als Prototyp für Kalifornien. Eine Einführung an der Westküste würde 150 Millionen Dollar kosten.

Dabei weiß in den USA jeder: "Das schlimmste Beben kommt noch", wie Newsweek schreibt. Geologen verweisen auf den ominösen Zusammenhang zwischen den jüngsten Mega-Beben im Pazifikraum. Japan (11. März), Neuseeland (22. Februar), Chile (27. Februar 2010): Alle ereigneten sich in der selben Gruppe geologischer Falzungen, die den Pazifik umranden - der "Ring of Fire". Drei Seiten dieses Rings bebten unlängst. Die vierte Seite: Kaliforniens San-Andreas-Spalte.

Diese Verwerfung läuft parallel zur US-Westküste und trennt die Pazifische von der Nordamerikanischen Platte, die hier aneinander vorbeischrammen. Der Druck wächst täglich. Die Spalte, sagt Thomas Jordan, der Chef des Southern California Earthquake Centers, "ist geladen und entsichert". Für San Francisco, wo die San-Andreas-Verwerfung zuletzt beim historischen Beben 1906 aufbrach, schätzen Geologen die Wahrscheinlichkeit eines "sehr zerstörerischen Erdbebens" mit einer Stärke von mehr als 6.7 bis zum Jahr 2032 inzwischen auf 62 Prozent. Für Südkalifornien erhöht sich diese Wahrscheinlichkeit auf 99,7 Prozent.

Tektonische Verwerfung unter Harlem

Wenn es dann knallt, wird das nach Berechnung der US-Erdbebenbehörde USGS "ein 200-Milliarden-Dollar-Desaster" werden. Von den fünf Atomreaktoren im Einzugsbereich der San-Andreas-Spalte ganz zu schweigen.

Das ist nicht die einzige Gefahrenzone. Unter der Moloch-Metropole Los Angeles verlaufen gleich mehrere tektonische Verwerfungen, die den Wissenschaftlern Sorge bereiten: die Puente-Hills-Verwerfung (unter der Downtown von L.A.), die Newport-Inglewood-Verwerfung (unter Long Beach), die Hollywood-Verwerfung (unter dem Sunset Boulevard). Und das sind nur die bekannten.

Nicht weit vor der Nordküste Kaliforniens erstreckt sich die unterseeische Cascadia-Subduktionszone, die entlang der Bundesstaaten Oregon und Washington bis hoch nach Kanada führt und das Potential zu Mammutbeben mit einer Stärke von mehr als 9.0 hat. Das letzte große Beben ereignete sich da um 1700. Die Wahrscheinlichkeit eines neuen in den nächsten 50 Jahren: 37 Prozent.

Auch außerhalb Kaliforniens arbeitet es unter dem Erdboden. Die "seismische Gefahrenkarte" des USGS offenbart Dutzende US-Regionen als Bebenherde - etwa der Nordosten (samt New England und New York), South Carolina und eine Ballungszone an der Grenze von Mississippi, Arkansas, Missouri, Illinois, Kentucky und Tennessee (siehe Grafik).

Erst im Februar erschütterte ein Beben der Stärke 4.7 Arkansas - das letzte in einer Reihe von mehr als 700 Beben dort seit September. In den letzten fünf Jahren bebte es unter anderem auch in Nevada (6.0), Alaska (5.8), Hawaii (5.4), Illinois (5.4), Montana (4.5), Maine (3.8), Colorado (3.7) und New Jersey (3.0). Eine Verwerfung verläuft direkt unter der 125th Street im New Yorker Stadtteil Harlem und ist so tief, dass die U-Bahn an dieser Stelle auf Stelzen fahren muss.

24 Milliarden Dollar für Krankenhaus-Nachrüstung

Zwar führt das US-Katastrophenamt Fema in Schulen und Gemeinden regelmäßige Erdbeben-Übungen durch, "ShakeOuts" genannt. Aber die erschöpfen sich meist im alten Mantra "drop, cover, hold on" - auf den Boden, unter den Tisch, festhalten.

Die Bauordnungen in den betroffenen Regionen sind streng, doch bei weitem nicht so streng wie in Japan. Kalifornien hat Hunderttausende "soft-story buildings", die bei einem Beben zusammenfallen würden. "Die Leute, die in diesen Gebäuden leben und arbeiten, haben keine Ahnung", sagte der Seismologe Thomas Heaton der "Los Angeles Times". "Es ist fast sicher, dass wir in der Zukunft eine Tragödie erleben werden."

Wahrer Bebenschutz ist aber sündhaft teuer - und die US-Staaten, allen voran Kalifornien, stecken tief in der Finanzkrise. Allein die momentane Beben-Nachrüstung der kalifornischen Krankenhäuser kostet 24 Milliarden Dollar, das ist fast so viel wie das komplette Haushaltsdefizit. Die Maßnahme wurde bereits 1994 nach dem Northridge-Beben in Angriff genommen. Geplante Fertigstellung: 2013.

Anfällig ist auch die Infrastruktur. Eine hochgelegte Freeway-Kreuzung im kalifornischen San Fernando Valley stürzte 1971 beim Sylmar-Beben ein, wurde wiederaufgebaut - und fiel 1994 beim Northridge-Beben erneut in sich zusammen.

Die US-Regierung versicherte am Montag erneut, dass die Atomreaktoren bebensicher seien. "Wir halten die nuklearen Kraftwerke in diesem Land für zuverlässig und sicher", sagte Greg Jaczko, der Chef der Atombehörde NRC, im Weißen Haus. "Alle unsere Anlagen sind so entworfen, dass sie bedeutsamen Naturphänomenen widerstehen können, darunter Erdbeben, Tornadoas und Tsunamis."

Trotzdem fordern die Demokraten im US-Kongress jetzt Anhörungen über die Erdbebensicherheit der AKW: "Die Atomindustrie hat die Bedeutung der Ereignisse in Japan heruntergespielt." Andere fordern sogar eine Wende in der Energiepolitik.

Alle US-Atomreaktoren bekommen ein "SQ"-Zertifikat ausgestellt ("Seismic Qualification"). Kritiker behaupten jedoch, dass dabei oft geschummelt werde. "Die einfachste Weise, dein SQ zu bekommen, ist zu lügen", schreibt der investigative Reporter Greg Palast.
Etliche US-Reaktoren stehen auf oder an seismischen Verwerfungen, nicht nur San Onofre in Kalifornien (siehe Grafik). Weiter nördlich an der Küste Kaliforniens befindet sich zum Beispiel das in den siebziger Jahren erbaute AKW El Diablo Canyon - fünf Kilometer von einer Spalte entfernt, die erst 1927 ein Beben der Stärke 7.1 verursacht hatte.

Und so bleibt den Amerikanern zunächst nur, sich an die müden Ratschläge der Behörden zu klammern. Die Los Angeles Times erinnerte die Bewohner der Millionenstadt am Montag daran, wenigstens eine "Erdbeben-Ausrüstung" im Schrank zu haben: "Wasser, Lebensmittel, Bargeld."