Die Katastrophen-Woche in Japan hat die Welt verwandelt und verlangt radikales Umdenken

Der GAU von Fukushima hat das Vertrauen in die Macht der Technik erschüttert. Die Neudefinition der «Risikogesellschaft» ist kein Gebot der Angst, sondern der Vernunft.


Apokalyptische Landschaft
© dpa« Apokalyptische Landschaft » (1912/1913) von Ludwig Meidner: Düstere Wolken ballen sich am Himmel. Aus dem Hintergrund wälzt sich eine gigantische Flutwelle heran. Ein nackter Mensch liegt auf der kahlen Erde. Endzeit. Fotos: Stiftung Preußischer Kulturbesitz/Ludwig-Meidner-Archiv, Jüdisches Museum Frankfurt
Finstere Wolken ballen sich am Himmel. Ein Vulkan speit Feuer. Bäume sind verdorrt, Häuser verbrannt. Eine mächtige Flutwelle wälzt sich aus der Ferne heran. Sie wird eine Stadt in den Abgrund reißen. Vorn ein Mensch, nackt, wie ein Gekreuzigter - auf die Erde genagelt. Rußiger Qualm steigt aus einem Lagerfeuer. Bald wird es erloschen sein. Weggespült. «Apokalyptische Landschaft»: So malte sie Ludwig Meidner 1912/13 - ein Bild der Verwüstung. Endzeit. German Angst.

Meidners Fantasie wird 100 Jahre später überboten von den realen Bildern aus Japan. Seit einer Woche gehen sie um die Welt wie ein apokalyptischer Live-Stream. Und doch enthält Meidners Gemälde im Kern den ganzen Schrecken des Untergangs: das Toben der Elemente, die Vernichtung von Leben und Zivilisation. Es zeigt die Zerstörung als Naturgewalt. Japan hat sie mit den Schockwellen des Erdbebens und eines gigantischen Tsunami getroffen. Was Meidner hier nicht malt, ist die Bedrohung durch das, was uns bereits zur zweiten Natur geworden ist: die Technik. Die möglichen Verheerungen durch eine außer Kontrolle geratene Technologie haben Dimensionen erreicht, die selbst die Wucht von Naturereignissen übertreffen. Ihre düsteren Ikonen sind die rauchenden Reaktorblöcke von Fukushima. Für uns scheinen sie weit weg.

Spiel des Zufalls

Als am 1. November 1755 ein Erdbeben und ein Tsunami das blühende Lissabon und 100 000 Menschen auslöschte, ging ein Schauder durch das aufgeklärte Europa. Die Natur schien den Verstand verloren zu haben. Mit dem Untergang der Stadt zerstob der Glaube, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen habe: Nein, es ging nicht vernünftig zu in der Welt. Voltaire protestierte mit einem Gedicht gegen die Sinnlosigkeit der Erderschütterung: «Welch trauriges Spiel des Zufalls ist doch das menschliche Leben», brütete der Franzose. Kant in Königsberg knirschte, der Mensch sei für die Natur nicht geschaffen. Das war er nie.

Klimaveränderungen, Vulkanausbrüche - der Mensch ist nur ein Gast auf Erden.

Aber ist er für seine eigene Erfindung, die Technik, geschaffen? Eine Technik, mit der er die Natur zwar zu beherrschen glaubt, mit der er ihr Zerstörungspotential aber auch selbst entfesseln, ins Monströse steigern kann? Fukushima, der Reaktor keines maroden Landes, sondern einer hochtechnisierten Nation, nährt die Skepsis.

So schnell wie diesmal die Flutwellen über die Ufer der asiatischen Pazifikinsel rollten, so schnell erreichten die Berichte Europa. Der Schockstarre über die Opfer, über Leid und Verzweiflung folgte in der vergangenen Woche bald der Schauder über das havarierte Atomkraftwerk und den drohenden Super-GAU. Er rückte uns Japan plötzlich so nah wie Lissabon. Das Trauma, ganze durch Radioaktivität verseuchte und entvölkerte Landstriche könnten auf Jahrzehnte unbewohnbar werden oder gar eine giftig strahlende Wolke Japan verlassen und um den Globus ziehen, gräbt sich noch tiefer in die Seele als Trauer, Mitgefühl und Entsetzen über Tsunami-Tote und verwüstete Dörfer, die doch wieder aufgebaut werden können.

Nichts ist mehr wie zuvor. Die Erdachse hat sich buchstäblich verschoben. Man spricht hierzulande jetzt von Mikrosievert, nicht mehr von Biosprit und Guttenberg. Und im Schatten radioaktiven Fallouts sogar kaum noch von einem Diktator wie Gaddafi.

Diktat der Vernunft

Was der Terror vom 11. September für die innere Sicherheit des Westens war, ist Fukushima für die immer wieder behauptete Sicherheit der Atomtechnik, nicht nur in Deutschland. Seit das «Restrisiko» nicht mehr durch Wahrscheinlichkeitsrechnungen aus der Welt geschafft werden kann, weil es Ereignis geworden ist, lassen sich Zweifel nicht mehr durch alte Formeln und Beschwörungen beschwichtigen. Natürlich glaubt niemand, dass ein Tsunami deutsche Meiler erreicht. Aber wer - zum Beispiel - will darauf schwören, dass die Reaktormannschaften für alle Ewigkeit in jedem Moment das Richtige tun, um die Wahrscheinlichkeit zu widerlegen? Atomkraft ist nicht beherrschbar. Strahlung hält sich nicht an Landesgrenzen. Es gilt das Gesetz, dass, was schiefgehen kann, auch einmal schiefgehen wird. Das hat die Jahrhundert-Katastrophe gezeigt. Wer bei Trost ist, muss daraus Lehren ziehen. Das diktiert nicht «German Angst», sondern die Vernunft.

Eine Umwertung ist bereits im Gang. Sie kann indes nicht mit nationalen Moratorien enden. Neue Maßstäbe sind gefordert. Alte Prämissen sind verbraucht. Leugnen und ignorieren gilt nicht mehr. Die «Risikogesellschaft» (Ulrich Beck), die ihre Fundamente auf fragwürdige Annahmen gründet, muss sich neu definieren. Selbst jene, zu deren Bekenntnis Kernkraft über die Jahre gehörte, erklären sich als von der Wirklichkeit belehrt - oder zumindest zur Besinnung gebracht. Doch dazu könnte viel mehr gehören, als manchem im Eifer eiligen Abschaltens bewusst sein mag.

Prinzip Verantwortung

Die moderne Wohlstandsgesellschaft treibt die «Risikogesellschaft» überhaupt erst aus sich hervor. Und manchmal - wie in Japan - frisst sie ihre Kinder. Nicht nur ihr Energiehunger für ein Leben in historisch beispiellosem Komfort drängt sie ins Unkalkulierbare. Es ist die Vorstellung, durch Reichtum, Sicherheit, Schönheit, Gesundheit und ewigen Fortschritt ließe sich der Naturzustand ein für allemal überwinden. Auch die in ihren Mechanismen bis heute nicht begriffene Finanzkrise, der Klimawandel, die Katastrophen in der Lebensmittelindustrie - sie alle sind Folgen eines Bewusstseins, das die «Krone der Schöpfung» zum hybriden «Herrn der Welt» ermächtigt. Was wir künftig brauchen, ist Demut - und die Bereitschaft zu Beschränkung und Verzicht. Sie könnten schmerzhaft werden.

Mit einem «Prinzip Verantwortung» wollte der Philosoph Hans Jonas (1903 - 1993) dem Menschen Zügel anlegen, der nie gekannte Kräfte der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Natur entfesselt hat. Angesichts des Umschlags technischer Verheißungen in planetare Bedrohungen fragte Jonas, ob «noch der Mensch der Wagenlenker ist, der die Rosse anspannt, oder ob er lediglich von einer anderen Macht mitgeschleift wird». Es lohnte, ihn wieder zu lesen. Günther Anders (1902 - 1992) sprach mit Blick auf die technische Mobilmachung des 20. Jahrhunderts von der «Antiquiertheit des Menschen». Seine Diagnose lautete, «dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; dass wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können; und dass wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen».

Kunst, Film und Literatur haben die Urangst vor einem «Crash of Civilization» immer wieder monumental ausgemalt. Die Furcht der modernen Welt vor ihrer Vernichtung durch Umweltkatastrophen, Atomkriege oder ein nukleares Desaster sitzt tief. Der Kino-Regisseur Roland Emmerich hat mit «Independence Day» oder den Klima-Dramen «The Day After Tomorrow» und «2012» epische Bilder der Endzeit ins kollektive Gedächtnis eingeprägt.

Ikone des Schreckens

Es ist von bizarrer Ironie, dass eine der ältesten filmischen Horrorszenarien aus dem vom Inferno von Hiroshima und Nagasaki traumatisierten Japan stammt. Als vor mehr als 50 Jahren der Mutant Godzilla erstmals aus dem radioaktiv verstrahlten Meer auftauchte, über das Land stampfte, Eisenbahnen wie Spielzeug zerknickte und mit giftigem Atem alles Leben auslöschte, wurde die Riesenechse zur Pop-Ikone apokalyptischen Grauens.