Börsenpsychologe
© Getty ImagesAuf der Couch beim Börsenpsychologen: Emotionen bestimmen das Geschehen an den Märkten.
Die Wahrnehmung der Anleger ist oft verzerrt, weiß Manfred Hübner. Gefühle wiegen stärker als Fakten. Im Interview erklärt der Experte für Börsenpsychologie, warum Investoren oft irrational und unvernünftig handeln.

Gier, Verliebheit, Nervosität und Panik - Sentix-Experte Manfred Hübner ist Experte für die Emotionen der Anleger. Das Frankfurter Analysehaus befragt wöchentlich mehr als 4.500 Investoren und liefert so wertvolle Einblicke in deren Psychologie. Davon können Anleger profitieren.

Die Börse besteht zu 90 Prozent aus Emotionen, sagte Börsenaltmeister André Kostolany einst. Stimmt das?

Auf jeden Fall. Es ist eine Mischung aus Emotion und Kognition, also Wahrnehmung, die die Märkte bewegt. Nobelpreisträger Robert Shiller hat das wissenschaftlich belegt. Er sagt: Die Verhaltenstheorie lehrt uns, dass die menschliche Psychologie entscheidend ist für die Erklärung des Verhaltens der Börsen!

Die extremsten Gefühle an der Börse sind Gier und Angst...

Es gibt aber noch vielfältige Schattierungen und Graustufen. Hinzu kommen Verhaltensanomalien, wie beispielsweise Wahrnehmungsverzerrungen. Auch in einer ausgeglichenen Gefühlslage kann es zu emotionalen Entscheidungen kommen. Extreme wie Gier oder Angst lassen sich aber natürlich viel besser messen.

Apropos Messen: Sie befragen wöchentlich mehr als 4.500 private und institutionelle Anleger und liefern damit wertvolle Einblicke in die Psychologie der Börsianer.

Wir fragen unter anderem die kurzfristigen und mittelfristigen Erwartungen der Anleger ab. Die mittelfristige Erwartung der Anleger sagt uns etwas zu deren Grundüberzeugung und hat deshalb Prognosecharakter. Die kurzfristigen Einschätzungen reflektieren die Anlegeremotionen und müssen deshalb als Kontraindikator gewertet werden: Sind die Börsianer extrem euphorisch, ist das ein Warnsignal. Sind sie hingegen ängstlich, spricht das eher für steigende Kurse.

Sind es diese Emotionen, die an der Börse immer wieder zu einem massiven Herdentrieb führen?

Menschen operieren nicht im luftleeren Raum. Sie suchen und finden vermeintliche Bestätigung ihrer subjektiven Ansichten oder Vorurteile, auch durch die Beobachtung der anderen Marktteilnehmer. Steigende Kurse schaffen Vertrauen, fallende Kurse machen Angst. Das löst Handlungsimpulse aus und lässt die Zögerlichen reagieren. Übrigens können wir das auch in der Art und Weise der medialen Berichterstattung zum Börsengeschehen ablesen.

Sie spielen auf den viel zitierten Bild-Zeitungs-Indikator an, der besagt, dass eine Rally vorbei ist, wenn die Boulevardmedien sie bejubeln?

Ja, die Wahrnehmung einer solchen Rally durch die Menschen entwickelt sich in Wellen. Ein solcher Zyklus ist übrigens auch in der Modebranche zu beobachten: Ein hipper Designer entwickelt einen ganz neuen Style in New York. Zuerst berichten vielleicht ein paar Mode-Blogger darüber, dann entdecken Trendscouts den Style. Es folgen die Early Adopter, immer mehr Menschen springen auf den Trend auf. Wenn dann irgendwann die entsprechende Kollektion bei H&M hängt, ist der Trend mehr oder weniger beendet. An der Börse läuft es ähnlich. Früher nannte man das Milchmädchen-Hausse, heute beschreibt der Bild-Zeitungs-Indikator das Phänomen.

Anleger handeln völlig konträr zu ihrem sonstigen wirtschaftlichen Handeln

Lässt sich das auch auf Zeiten fallender Kurse umsetzen?

Auf jeden Fall. Die mediale Beobachtung lässt sich in drei Phasen einteilen. In der ersten Phase fällt der Kurs, keiner weiß warum, aber es wird als vorübergehende Korrektur abgetan. Wir nennen das die Phase des Leugnens. Für uns ist das übrigens ein Alarmsignal. Es folgt die Phase der Erkenntnis. Der Kurs fällt weiter, aber nach und nach gibt es immer mehr Erklärungen dafür. Schließlich bricht Panik aus. Die Medien berichten von Verkäufen, von verzweifelten Händlern oder Anleger. Alle wollen nur noch raus - die Phase der Kapitulation. Das ist aber keine Medienschelte. Die Medien sind ein Spiegel des Zeitgeistes. Wie heißt es so schön: Nicht Nachrichten machen Kurse, sondern Kurse machen Nachrichten.

Gilt das auch für Fachmedien?

Im Grunde schon. Notierte der Dax beispielsweise in den vergangenen Jahren nahe seiner Allzeithochs titelten Börsenmagazine „Dax steigt um 70 Prozent“ und prognostizierten im Sommer 2007, kurz vor dem empfindlichen Absturz, „Kursgewinne bis 2012“. Als der Dax August 2008 auf 4000 Punkte abstürzte hieß es „Vorsicht Wirtschaftskrise“, einige Monate später, nachdem der Dax noch ein bisschen weiter gerutscht war, hieß die Frage auf dem Cover „Alles verkaufen?“. Unmittelbar danach kam die Wende an der Börse. Die meisten Privatanleger waren da schon ausgestiegen.

Fallende Kurse bieten aber auch Chancen...

Anleger tendieren aber leider dazu prozyklisch zu handeln. Sie kaufen, wenn die Kurse steigen, und verkaufen, wenn sie fallen. Und damit kaufen sie teuer und verkaufen billig. Das ist völlig konträr zu unserem sonstigen wirtschaftlichen Handeln. Auf dem Wochenmarkt würden wir auch nicht beim Bauern kaufen, der lautstark die schlechtesten Tomaten zum höchsten Preis anbietet. Dort halten wir nach Angeboten Ausschau.

Warum machen wir das bei der Geldanlage anders?

Das ist ein bisschen wie mit dem Engelchen und dem Teufelchen im Ohr - Vernunft gegen Emotionen. In der Hitze des Gefechts, wenn es an der Börse mal wieder hektisch zugeht und der Handlungsdruck groß ist, werden vernünftige Argumente leider oft überhört. Dann übernimmt das Teufelchen und verführt Anleger zu Fehlurteilen.

Was charakterisiert einen vernünftigen Anleger?

Er denkt langfristig, verfolgt eine klare Strategie, ist geduldig und handelt antizyklisch. Ein emotionaler Anleger handelt impulsiv, kurzfristig, prozyklisch, springt also jedem Trend hinterher. Wenn man es zuspitzen möchte: Weisheit gegen Verrücktheit.

Geld ist die ultimative Ressource

Aber warum siegt so oft die Verrücktheit über die Weisheit?

Im Grunde können viele Anleger das Marktgeschehen ziemlich gut einschätzen. Sie haben ein gutes Gespür dafür, ob etwas zu teuer oder zu billig ist. Doch immer wieder gewinnen die Gefühle die Überhand über das analytische Gespür. Andere wiederum können die Masse der verfügbaren Informationen nicht wirklich verarbeiten und einschätzen. Sie haben keine eigenen Strategie, suchen Orientierung und schauen auf die anderen. Diese Anleger sind ihren Emotionen dann natürlich auf Gedeih und Verderb ausgesetzt. Im Zweifel siegt die Emotion immer über den Verstand.

Anleger machen dann Fehler, und die können recht kostspielig sein...

Wohl wahr. Zumal Verluste mehr als doppelt so viel wiegen wie Gewinne. Verluste sind psychisch viel schwieriger zu verarbeiten als Gewinne. Streng wissenschaftlich hängt das mit unseren Gehirnfunktionen zusammen. Wir haben über Jahrhunderte gelernt, uns nicht mehr wegnehmen zu lassen, was wir haben. Wenn unsere Vorfahren vor 10.000 Jahren ihr Essen verloren haben, sind sie verhungert. Es war eine Überlebensstrategie, festzuhalten, was man besitzt.

Und mit dem Geld ist es genauso?

Geld ist die ultimative Ressource. Wir kaufen uns damit nicht nur unsere Grundnahrungsmittel, sondern auch Sicherheit. Deshalb wiegt der Verlust hier besonders schwer.

Zwischenzeitliche Verluste an der Börse können wir aber zumindest in der Theorie wieder aufholen?

Nur dauert das oft länger, als gedacht. Verliert eine Aktie zwei Prozent, muss sie 2,04 Prozent zulegen, um den Verlust auszugleichen. Bei einem angenommenen jährlichen Plus von vier Prozent, würde es sechs Monate dauern. Verliert das Papier fünf Prozent, muss es 5,26 Prozent zulegen, was - wieder vier Prozent Plus pro Jahr vorausgesetzt - 15 Monate dauert. Halbiert sich der Kurs, muss er sich gar verdoppeln, um das Minus wettzumachen. Bei vier Prozent Anlagezins würde das dann 16 lange Jahre dauern. Da wird aus einem kurzfristigen Trade kurzerhand ein Langfristinvestment.

Trotzdem halten Anleger an Verlustbringern fest...

Wir wollen unsere Entscheidungen perfektionieren, am liebsten sollen alle Einzelentscheidungen richtig sein. Fehlentscheidungen möchten wir uns nur ungern eingestehen. Einen Verlust zu realisieren, käme dem aber gleich. Deshalb sitzen viele Verluste aus, was an der Börse jedoch absurd ist. Denn wir wissen doch, dass statistisch von zehn Geschäften vier bis sechs schief gehen. Das muss man akzeptieren. Langfristiger Anlageerfolg manifestiert sich meiner Meinung nach an vermiedenen Verlusten.

Und wie vermeide ich die? Etwa durch Stop-Loss-Kurse?

Für Privatanleger ist das sicher sinnvoll und vor allem sehr bequem. Ich selbst arbeite bei unseren Fonds und auch privat bevorzugt mit Derivaten. Die haben je nach Produkt ein eingebautes Verfallsdatum und eine Verlustbegrenzung. Der Stop-Loss wird also quasi mitgeliefert. Zertifikate sind, wenn sie richtig angewendet werden, enorm hilfreich um eine Anlagestrategie umzusetzen.

Aus dem Spannungsfeld von Verstand und Gefühl entstehen Gelegenheiten

Vielen Privatanlegern dürfte das zu kompliziert sein. Zumal es in Deutschland sowieso an einer Aktienkultur mangelt. Nur knapp fünf Millionen Menschen beteiligen sich über die Börse an der deutschen Wirtschaft.

Es mangelt vor allem an der finanziellen Bildung. Die Deutschen wissen wenig darüber, wie Werte in der Wirtschaft geschaffen werden. Und sie haben kein Gefühl für Zeit. Sie verstehen nicht, dass Zeit bei der Geldanlage an der Börse unser größter Freund ist. Bei einem kreditfinanzierten Hauskauf ist das übrigens anders. Da wissen sie, dass sein Wert über viele Jahre oder gar Jahrzehnte entsteht.

Als ein Argument gegen Aktien werden oft die Schwankungen an der Börse genannt.

Aber Immobilienpreise schwanken doch auch. Nur sagt uns niemand jeden Tag, was unser Haus wert ist. Bei Aktien ist das anders. Da haben wir jederzeit einen aktuellen Kurs und erleben die Schwankungen tagtäglich. Niemand würde in Panik verfallen und sein Haus verkaufen, nur weil der Preis um zehn Prozent zurückgeht. Aktionäre reagieren sehr viel emotionaler.

Und diese Emotionen messen Sie Woche für Woche. Welche Fragen sollten sich Anleger mit Blick auf solche Auswertungen stellen? Wie können sie profitieren?

Wichtig sind vier Fragen: Was wissen, fühlen und tun Anleger? Wo wird Wissen ignoriert? Wo wird zu einseitig investiert? Wo dominiert die Gier, wo die Angst? Aus dem Spannungsfeld von Verstand und Gefühl entstehen für Investoren „Gelegenheiten“. Genau dafür interessieren wir uns bei Sentix.

Sie setzen Ihre Erkenntnisse in zwei Fonds um. Wie funktioniert das?

Nehmen wir den Sentix Fonds Aktien Deutschland, der den Dax nach Kosten um ein bis drei Prozent pro Jahr schlagen soll. Die Basis des Fonds bietet ein Aktienportfolio mit einer hohen Korrelation zum Dax. Bei unseren wöchentlichen Umfragen messen wir Angst oder Gier, Optimismus oder Pessimismus für verschiedene Anlageklassen. Diese Emotionen interpretieren wir und setzen sie Woche für Woche in Anlageentscheidungen um. Das geschieht mit Futures und Optionen.

Geht das Konzept auf?

Back-Tests vor Fondauflage habe das ganz klar bewiesen. Und auch unsere Bilanz seit Auflage des Fonds am Mitte März 2013 bestätigt uns: Während der Dax 20,1 Prozent zulegte, schaffte unser Fonds 21,1 Prozent, nach Kosten wohlgemerkt.

Herr Hübner, danke für das Gespräch.