© nicolasberlin / photocase.deJeder Mensch hat heute viele Rollen, bewegt sich in verschiedenen Lebenswelten.
"Werdet endlich erwachsen!" - "Dann gebt doch die Kinder ins Heim und setzt euch den ganzen Tag ins Café, ihr Schwachmaten!" - "Schämt euch bis ans Ende der Welt." Ein paar Wochen lang wütete auf Twitter eine Auseinandersetzung unter dem Hashtag
#Regrettingmotherhood. Mütter hatten zugegeben, dass sie das Muttersein nicht ausschließlich genießen. Vordergründig empörte die Massen, dass diese Frauen nicht glücklich und erfüllt sind, allein weil sie Kinder haben - so wie es der Muttermythos verlangt. Unterschwellig ging es in dieser Debatte aber noch um etwas anderes: Die Frauen sagten, sie liebten ihre Kinder zwar, doch wenn sie sich noch einmal entscheiden könnten, würden sie sie nicht bekommen. Ein Widerspruch, den offenbar viele Leute nicht aushalten konnten.
Das Innenleben ist manchmal kompliziert. Ein Teil will die Beziehung, der andere nicht, ein Teil will einen festen Job, der andere frei sein, und manchmal will eben auch ein Teil Mutter sein und ein Teil nicht. Jeder Mensch hat heute so viele Rollen, bewegt sich in so verschiedenen Lebenswelten, realen und ersehnten, vergangenen, gegenwärtigen und künftigen, und entwickelt entsprechend viele Teilidentitäten.
Da entstehen Widersprüche, und die werfen große Fragen auf. Fragen danach, wie wir den Menschen sehen wollen, wie vielseitig der Einzelne sein darf, wie eindeutig er sein muss. Glücklich und zugleich unglücklich sein, die Kinder lieben, aber eigentlich keine haben wollen, geht das? Kann es einem selbst nur dann gut gehen, wenn man solche Gegensätze und Dissonanzen auflöst? Oder dürfen sie stehen bleiben? Und was würde das für unser Zusammenleben bedeuten?
Die Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, sind in den vergangenen Jahrhunderten immer vielfältiger geworden. Diese Entwicklung begann schon am Ende der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ständegesellschaft: Als damals viele Zwänge und Konventionen entfielen, hatten unsere Vorfahren eher die Chance, einen Beruf frei zu wählen und damit auch das soziale Umfeld zu wechseln.
Heute arbeitet kaum mehr jemand sein Leben lang in demselben Job, oft nicht einmal im selben Beruf. Wir verändern uns immerzu und werden dabei nie fertig. Auch Familien setzen sich in wechselnden Konstellationen immer wieder neu zusammen, viele leben im Patchwork-Stil. All das bringt Spielraum mit sich, aber auch Unruhe: Mit jedem Wechsel der Arbeit, des Wohnorts, der Familienstruktur ändert sich ein Teil der Identität.
Zugleich ergeben sich stets neue Möglichkeiten, die eigene Identität flexibel zu gestalten. Wer sich bei Facebook ein Profil anlegt, kann zwischen mehr als 60 verschiedenen Geschlechtern wählen, darunter Agender, Androgyn und Male to Female.
Intersexuelle, die weibliche und männliche Anteile in sich tragen, haben erkämpft, dass im Pass heute für das Geschlecht ein X stehen darf. Selbst so festgesetzte Kategorien wie Männlich und Weiblich lassen sich also hochoffiziell umgehen.
Neu ist auch, dass keiner mehr mit seinen Interessen allein ist, seien sie noch so obskur. In Onlineforen findet jeder Gleichgesinnte, ob für Rollenspiele oder für den fachkundigen Austausch über Flipper-Automaten oder die artgerechte Haltung von Anakondas im Wohnzimmer. Das macht es leichter als früher, die einzelnen Teile seiner Identität auszuleben.
Es ist diese Mischung aus gesellschaftlichem und technischem Fortschritt, die eine vielfältige Welt erschafft und in ihr den Menschen mit multipler Identität. Im Extremfall beginnt die Fragmentierung schon vor der Geburt: Manche Kinder haben heute mehr als zwei Eltern, etwa eine Mutter, einen sozialen Vater und einen Samenspender. Oder zwei Väter, eine Eizellspenderin als biologische Mutter und zusätzlich eine Leihmutter. In den USA kann man schon seit Jahren Embryonen anderer Menschen adoptieren und selbst austragen. Als Kind muss man sich da die Einzelteile seiner Identität erst einmal zusammensuchen. Solche Konstellationen sind bislang sehr selten, aber sie geben eine Ahnung davon, vor welchen Fragen die Menschen in naher Zukunft stehen werden.
Je mehr Lebenswelten wir betreten, desto mehr Facetten können wir entfalten. Wie leicht sich je nach Situation einzelne Teilidentitäten wachrufen lassen, zeigen psychologische Experimente. Fragt man beispielsweise Probanden vor einem Mathetest nach ihrem Geschlecht, schneiden Frauen in den Aufgaben schlechter ab. Offenbar erinnert die Frage nach dem Geschlecht sie daran, dass sie dem Stereotyp zufolge ja gar kein Mathe können - und aktiviert so ihr unsicheres Selbst. Und lässt man Banker an einem Spiel teilnehmen, hängt ihr Verhalten davon ab, ob man sie anfangs bittet, Fragen zu ihrem Beruf zu beantworten. Wird auf diese Weise nämlich ihr Banker-Selbst geweckt, schummeln sie mehr.
Unser Geist ist bevölkert mit anderen MenschenEs sind kuriose Einblicke in die wankelmütige menschliche Psyche, aber sie sagen nichts darüber aus, ob uns das Leben in der fragmentierten Welt guttut. Was die Vielfalt der Möglichkeiten und Teilidentitäten mit uns macht, wissen wir noch gar nicht. Manche Experten haben zumindest Bedenken. Es sei heute schwierig, überhaupt eine konstante Identität zu haben, schreibt
der Psychologieprofessor Eric Lippmann von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in seinem Buch
Identität im Zeitalter des Chamäleons. Die vielen Seiten der eigenen Identität zu entdecken sei nicht nur eine Chance, sondern auch eine Pflicht. Je mehr Veränderungen wir erlebten, desto häufiger seien wir gezwungen, unsere Identität anzupassen. Hier sieht Lippmann ein Problem: "Man muss sich immer schneller verändern, aber Identitätsbildung braucht eigentlich Zeit."
Soziologen beschäftigten sich schon in den neunziger Jahren mit diesen postmodernen Veränderungen unserer Lebenswelten. In seinem Buch
Der flexible Mensch beschrieb Richard Sennett, wie prekäre Arbeitsverhältnisse und die Erwartung, jederzeit für einen Job den Wohnort zu wechseln, zu Instabilität führen - in der Gesellschaft, aber auch in jedem Einzelnen. Zygmunt Bauman beschrieb die Menschen als Nomaden, die sich immer wieder in neuen Umgebungen zurechtfinden müssten.
Spiegelt sich diese Zerfaserung der äußeren Lebensumstände im Inneren der Menschen wider? Und wie sollte man damit umgehen? Es ist nicht leicht, Antworten auf diese existenziellen Fragen unserer Zeit zu finden. In der Psychologie muss man sie sich erst zusammensuchen. Die Wissenschaftler forschen zwar zu einzelnen Phänomenen, etwa dazu, wie ein Wechsel der sexuellen Orientierung oder der geografischen Heimat sich auf die psychische Gesundheit auswirkt. Aber nur wenige Forscher haben aus den soziologischen Analysen unserer Gegenwart Konzepte für die Psychologie entwickelt.
Zu diesen Ausnahmen gehört Heiner Keupp, Soziologe und emeritierter Professor für Sozialpsychologie an der Universität München.
Er prägte den Begriff "Patchwork-Identität": Die Einzelnen müssten heute einiges leisten, um sich selbst noch verorten zu können. Dazu müssten sie "Erfahrungsfragmente in einen für sie sinnhaften Zusammenhang bringen". Keupp hält dies für möglich und schlägt sogar vor, "sich von einem Begriff von Kohärenz zu verabschieden, der als innere Einheit, als Harmonie oder als geschlossene Erzählung verstanden wird". Stattdessen solle man eine offene Struktur zulassen, in der "die Verknüpfung scheinbar widersprüchlicher Fragmente" erlaubt ist.
Auch der niederländische Psychologieprofessor Hubert Hermans reagiert auf die Veränderungen unserer Gesellschaft. Er betrachtet das menschliche Selbst als dezentralisiert, beweglich und veränderbar.
Nach seiner Theorie des Dialogischen Selbst besitzt jede Person mehrere Versionen von sich selbst, die miteinander kommunizieren. "Unser Geist ist bevölkert mit anderen Menschen", sagt Hermans. "Wir sind nie allein."
Zu den inneren Personen kann der Optimist gehören, aber auch der Pessimist. Das innere Kind hat dort seinen Platz, ebenso wie reale Personen aus der Umwelt, die im Selbst repräsentiert sind: der Lehrer etwa, der Kontrahent von der Arbeit oder der eigene Vater. Im Inneren entstehe so eine ganze Gesellschaft - "Society of Mind" nennt Hermans das. Und deshalb laufen auch gesellschaftliche Prozesse zwischen diesen Akteuren ab: Sie tragen Konflikte aus, sie beraten einander, sie verständigen sich. In seiner Theorie greift Hermans auf Elemente der Narrativen Psychologie zurück - die geht davon aus, dass wir uns ohnehin die ganze Zeit selbst Geschichten darüber erzählen, wie wir uns und Ereignisse erleben. Das kann gegensätzliche Anteile des Selbst miteinander verbinden.
Psychotherapeuten verschiedener Richtungen wenden heute die Technik des leeren Stuhls an, auch Zwei-Stuhl-Technik genannt. Der Gestalttherapeut Frank-M. Staemmler, der sich an der Theorie des Dialogischen Selbst orientiert, ermuntert seine Klienten ganz gezielt dazu, ihre verschiedenen Teile zu entdecken und zum Ausdruck zu bringen. Jede Teilidentität bekommt dabei einen eigenen Stuhl. Die Klienten geben den einzelnen Facetten eigene Namen und lassen sie miteinander sprechen: Der Entschiedene und der Unsichere, die Heilige und die Hure, der Angeber und der Waschlappen, aber auch die Königin der Nacht, Sisyphus und Gott saßen schon in Staemmlers Praxis in Würzburg und diskutierten miteinander.
Wenn zum Beispiel das Selbst gesprochen hat, das noch an einer maroden Beziehung hängt, fordert Staemmler den Klienten auf, sich auf den nächsten Stuhl zu setzen und dann das andere Selbst sprechen zu lassen, das sich vom Partner trennen will. Der Therapeut hört zu und beobachtet, was die Teilidentitäten einander zu sagen haben, wie sich die Stimme von Stuhl zu Stuhl verändert und wer wem ins Wort fällt.
Er weiß, dass das schräg klingt, deshalb sagt er gleich dazu: "Wenn Klienten Hemmungen haben, bekommt die gehemmte Teilidentität einen eigenen Stuhl. Psychotherapie muss ungewöhnlich sein, weil man im Gewöhnlichen ja feststeckt." Dann kann das Selbstgespräch beginnen. Ein Beispiel: Im Therapiezimmer sitzt eine Klientin, deren Mutter gestorben ist. Ein Teil von ihr ist traurig, ein anderer aber auch erleichtert. "Wenn jemand psychisch schon so weit entwickelt ist, unterhalten sich die Stimmen wie Freundinnen", sagt Staemmler. Die Erleichterte gibt zu, dass sie froh ist, nicht mehr jeden Tag das Leid zu sehen und die Drecksarbeit machen zu müssen. Der Therapeut fragt dann, wie sich das jetzt für die andere Seite angehört habe, die Klientin setzt sich auf den anderen Stuhl und sagt: Ja, sie verstehe das, aber sie sei auch traurig, weil die Mutter ihr wichtig war. Womöglich kommt nun eine vorwurfsvolle Seite dazu, die sagt: Das darf nicht sein, dass du erleichtert bist. "Mit dieser Seite kann man sich dann auseinandersetzen."
Was ist mit Schizophrenie, Borderline oder Multipler Persönlichkeitsstörung?Wenn jemand heftige psychische Probleme hat, kann die vorwurfsvolle Seite richtig ätzend werden: Wenn du jetzt erleichtert bist, verdienst du es nicht, auf der Welt zu sein! "Das kann bis zum Suizid gehen", sagt Staemmler. Sein Vorschlag: die grausame Seite einbeziehen und mit den anderen Seiten ins Gespräch bringen.
Ist das der richtige Umgang mit unseren Teilidentitäten? Geht es uns besser, wenn wir unsere gegensätzlichen Facetten pflegen und ausleben? Eigentlich hatte die Psychologie ein anderes Bild des Menschen entworfen. Der Mensch ist demnach jemand, der Widersprüche schlecht aushält. In den fünfziger Jahren entwickelte der Sozialpsychologe Leon Festinger das einflussreiche Modell der Kognitiven Dissonanz. Es besagt, dass Widersprüche unangenehme Spannungsgefühle mit sich bringen und dass Menschen diese möglichst schnell auflösen wollen. Empirische Überprüfungen bestätigten Festingers Annahme immer wieder: Wer ein Produkt, zum Beispiel eine Armbanduhr, kauft (und sich dabei gegen eine andere entscheidet), wertet die Uhr anschließend auf, um das unangenehme Gefühl eines Fehlkaufs zu vermeiden. Informationen sucht man tendenziell so selektiv aus, dass sie zur eigenen Einstellung passen - Anhänger der CDU lasen nachweislich weniger über den Spendenskandal der Partei als die Anhänger anderer Parteien.
Die Idee eines
Sense of Coherence, eines Kohärenzgefühls, die der israelisch-amerikanische Soziologe Aaron Antonovsky formulierte, beeinflusste auch viele psychologische Konzepte. Demnach ist es förderlich für die psychische Gesundheit, wenn Menschen das Gefühl haben, ihre äußere Umgebung zu verstehen, Schwierigkeiten bewältigen zu können und einen Sinn in ihren Tätigkeiten zu erkennen. Größere Spannungen und Widersprüche können sich dagegen ungünstig auf die psychische Gesundheit auswirken.
Nach der Konsistenztheorie des Psychologen Klaus Grawe ist es wichtig, Unstimmigkeiten aufzulösen. "Konsistenz im psychischen Geschehen gilt als Voraussetzung für gutes Funktionieren und für gute Gesundheit", schrieb er in der Metaanalyse
Inkonsistenz und psychische Gesundheit, die im Jahr 2006 erschienen ist. Wenn die Sehnsüchte zu weit von der Realität entfernt liegen oder die eigenen Ziele nicht zueinanderpassen, könne dies das Wohlbefinden einschränken und sogar psychische Störungen begünstigen.
Ist es am Ende womöglich gefährlich, sich selbst in Einzelteile zu zerlegen? Spielt nicht gerade die innere Fragmentierung bei einigen psychischen Störungen eine große Rolle? Was ist mit
Schizophrenie,
Borderline oder Multipler Persönlichkeitsstörung?
"Für Menschen, die an einer schweren Persönlichkeitsstörung leiden, kann die Zwei-Stuhl-Technik ungünstig sein", sagt
Heidi Möller, Psychologieprofessorin an der Universität Kassel, die sich viele Jahre lang mit Psychotherapieforschung beschäftigt hat. "Menschen, die sich als fragmentiert erleben, leiden oft sehr darunter. Ihnen hilft es eher, wenn man etwas für die Integration ihrer Anteile tut." Eine Störung durch die Methode erst hervorzurufen, hält Heidi Möller allerdings nicht für möglich. "Für Gesunde ist die Zwei-Stuhl-Technik sehr gut geeignet, um innere Konflikte deutlich zu machen", sagt sie.
In der Psychologie herrschen immer noch vor allem jene Ansätze vor, die von einem stimmigen Selbst als Ideal ausgehen. Theorien wie die des Dialogischen Selbst sind in der Breite kaum bekannt. Trotzdem gibt es sie, die Abweichler, die die etablierten Konzepte infrage stellen. Das traditionelle Selbstkonzept wirft zudem Ungereimtheiten auf. Alleinstehende zum Beispiel müssten dem traditionellen Konzept zufolge eigentlich besonders zufrieden sein, da sie in weniger sozialen Umfeldern zurechtkommen müssen und deshalb weniger Raum für Konflikte zwischen sozialen Rollen und inneren Teilidentitäten besteht. In Wirklichkeit seien aber gerade diese Personen häufig unglücklich, argumentierte die Psychologin Patricia Linville schon in den achtziger Jahren. Die aktuelle Forschung bestätigt: Singles sind anfälliger für Depressionen und andere psychische Probleme als Verheiratete. Menschen mit vielen sozialen Kontakten haben ein höheres Selbstwertgefühl und ein geringeres Risiko für Angststörungen und Depressionen. Linville leitete daraus ab, dass eine hohe Selbstkomplexität sogar psychisch gesund sein könnte.
Unterstützt werden die Vertreter des pluralen Selbst von den Erkenntnissen der
Neurowissenschaft: Im Hirn sucht man vergeblich nach der einen zentralen Stelle, die das Ich ausmacht. Es entsteht eher das Bild eines losen Konstrukts, das sich mit jeder neuen Erfahrung weiter formt. Einen Kern des Selbst gibt es demnach nicht.
Dass wir überhaupt ein Ich-Bewusstsein empfinden, ist nur das Ergebnis eines Prozesses, in dem das Gehirn die Illusion eines solchen Wesens fortlaufend selbst erschafft.
Dass wir ungelöste Widersprüche oft als unangenehme Spannungen empfinden, liege nur daran, dass wir es kulturell so gelernt hätten, meint der Therapeut Frank-M. Staemmler. In seinem aktuellen Buch
Das dialogische Selbst verweist er auf Asien, wo es in vielen Kulturen normal sei, Gegensätze innerhalb der eigenen Person einfach stehen zu lassen. Der Wunsch, ein Mensch möge in sich immerzu stimmig sein, sei typisch westlich und habe eine lange Geschichte. "Dieses traditionelle Selbstkonzept stammt aus der Aufklärung", sagt Staemmler. "Demnach muss jeder nur sich selbst gründlich reflektieren, dann entwickelt er automatisch eine stimmige Identität. Wer das nicht hinkriegt, gilt schnell als krank." Der Einzelne sollte damals von den Zwängen der Ständegesellschaft befreit werden. Es galt als große Errungenschaft, dass jeder sich selbst bestimmen und frei entfalten durfte. Inzwischen ist das Recht auf Selbstverwirklichung womöglich auch zu einer Pflicht geworden.
Die pseudotherapeutischen Botschaften, mit denen Anbieter von Fitnessstudio bis Coach werben, passen ins traditionelle Bild:
Entdecke dein wahres Ich. Finde dich selbst.
Sei, wie du bist. "Schon der Begriff Selbstfindung regt mich auf", sagt Staemmler. "Als sei das eine, wahre Selbst schon vorhanden, und man müsse es nur noch finden wie ein Osterei." In Staemmlers Vorstellung entsteht das Selbst erst in verschiedenen Situationen. "Es geht mehr um Selbsterfindung als um Selbstfindung."
Bleibt das Problem, dass die soziale Umgebung damit zurechtkommen muss. Treffen unterschiedliche Lebenswelten und die dazugehörigen Teilidentitäten aufeinander, irritiert das andere. Wenn etwa neue Seiten öffentlicher Personen bekannt werden, kann das befremdlich sein oder bizarr, es kann das Publikum amüsieren oder empören: Lieblingsschwiegersohn Christian Wulff verheimlichte einen Privatkredit und drohte Journalisten - was?! Ein Bild von Günter Grass in den
Tagesthemen, auf dem er nicht nur keine Pfeife im Mund hat, sondern auch noch ausgelassen Sirtaki tanzt??? Ein biederer CDU-Politiker namens Christian von Boetticher hatte eine Affäre mit einer 16-Jährigen? Selbst die quasiheilige Margot Käßmann wurde auf einer nächtlichen Alkoholfahrt erwischt. Und dann meldet sich auch noch ein schwuler Fußballer zu Wort!
Erstaunlich ist allerdings, dass wir andere Widersprüche schon gar nicht mehr als solche wahrnehmen: Der Kollege trägt Ökomode, findet Umwelt- und Klimaschutz gut, fliegt aber in den Urlaub? Aus der Kirche ausgetreten, aber für die
Matthäus-Passion zu Ostern mal wieder vorbeigeschaut? Vegetarier, die gerne Fleisch essen? Nennen wir sie Flexitarier.
So what?Was wir als unangenehmen Spannungszustand empfinden und was als normal, scheint gerade ziemlich im Fluss zu sein. Können wir unsere Wahrnehmung weiter ändern? Sollten wir es? Für etwas mehr Gelassenheit hilft vielleicht der Hinweis darauf, dass Gegensätze und Widersprüche in bestimmten Situationen ausgesprochen positiv besetzt sind und sogar für viel Geld verkauft werden. Kreativitätstrainings setzen oft darauf, Gegensätze herauszuarbeiten und nebeneinander stehen zu lassen. Wer denkt, er müsse sich entscheiden, wird aufgefordert, das "Entweder - oder" durch ein "Und" zu ersetzen. Die Kopfstandtechnik empfiehlt, Aufgaben ins Gegenteil zu verkehren - ein Bäcker sollte sich also fragen, wie er möglichst wenige Brötchen verkauft. Bei der Walt-Disney-Methode aktiviert man drei Teilidentitäten in sich, weil auch der Filmproduzent der Legende nach so vorging: den Träumer, den Realisten und den Kritiker. Nacheinander nimmt man ihre Positionen ein und argumentiert aus ihren Perspektiven. Solche Techniken sollen Blockaden lösen, einen neuen Blick auf die Welt ermöglichen und Großes hervorbringen.
Kommentar: Die Erkenntnis, dass der Mensch viele Ichs besitzt, ist nun wirklich nicht neu. Schon um 1912 lehrte zum Beispiel Georges I. Gurdjieff, dass unsere Psyche aus vielen fragmentierten Einzelteilen besteht, die ständig im Kampf untereinander stehen, nichts von sich wissen und glauben, jeder sei sein eigener Herr: Er gründete unter anderem die Schule des sog. "Vierten Weges". P.D. Ouspensky, ein Schüler Gurdjieffs, schrieb das Buch "Auf der Suche nach dem Wunderbaren", welches ausführlich auf dieses Thema eingeht und aufzeigt, wie sehr wir durch unsere vielen Ichs gesteuert und getäuscht werden und wie wir es anstellen können, diesem Kreislauf auf lange Sicht zu entkommen.
Aber natürlich sind die heutigen Neurowissenschaften ebenfalls auf diesen Umstand aufmerksam geworden und zum Beispiel Bücher wie "Gestatten, mein Name ist Ich: Das adaptive Unterbewusste" von Timothy D. Wilson oder "Schnelles Denken, langsames Denken" von Daniel Kahneman zeigen sehr gut, wie wenig wir doch über uns selbst wissen und wie viel Unsinniges wir über uns selbst glauben.