Jeder zehnte Österreicher lässt sich wegen psychischen Leiden behandeln - Was schlägt der Gesellschaft derart auf die Psyche?

Psychische Krankheiten
© UnbekanntWas schlägt den Österreichern derartig auf die Psyche?
Wien - Sie schlucken Psychopharmaka, sind im Krankenstand, liegen auf der Psychiatrie oder gehen zum Psychotherapeuten: 900.000 Österreicher - also mehr als zehn Prozent der Bevölkerung - befinden sich im Laufe eines Jahres wegen psychischer Leiden in Behandlung. Davon gelten an die 250.000 Betroffene als schwere Fälle in dauerhafter Therapie.

"Erstaunlich und erschreckend" nennt Christoph Klein, Vizedirektor des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, die fürs Jahr 2009 repräsentativen Daten, auch weil ein "außergewöhnlicher Anstieg" zu bemerken ist. Innerhalb von drei Jahren ist die Zahl der psychisch Kranken um 100.000 angeschwollen - macht ein Plus von zwölf Prozent.

Fast alle Patienten, nämlich 840.000, bekamen laut der von Hauptverband und Salzburger Gebietskrankenkasse durchgeführten Analyse Psychopharmaka verordnet. Vor allem Antidepressiva (zwei Drittel der Verschreibungen) finden immer reißenderen Absatz, bei Kindern dominieren Angstlöser und Stimulanzien wie Ritalin. 78.000 Menschen waren wegen mentaler Beschwerden im Krankenstand - woran sich ein eindeutiger Trend ablesen lässt. Während sich Krankenstände aus köperlichen Gründen in drei Jahren nur um zehn Prozent vermehrten, betrug der Zuwachs bei psychischen Ursachen 22 Prozent.

Diese Entwicklung treibt die Kosten. Ein psychisch bedingter Krankenstand dauert fast viermal so lange wie bei somatischen Erkrankungen - 2,5 Prozent der Fälle verschlingen 15,7 Prozent des gesamten Krankengeldes. Der Aufwand für Medikamente steigt überproportional (siehe Grafik) und macht knapp ein Drittel der 790 bis 850 Millionen aus, die für die Behandlung psychisch Kranker pro Jahr ausgegeben werden. Und dabei ist noch nicht jene "Kostenlawine" (Klein) eingerechnet, die von Frühpensionierungen ausgelöst wird: Ein Drittel der Invaliditätspensionisten tritt aus psychischen Gründen in den Ruhestand.

Gestresste Arbeitnehmer

Was schlägt den Österreichern derartig auf die Psyche? Die Suche nach Antworten drifte rasch ins "Spekulative" ab, gibt Klein zu. Als gesichert gilt: Es sind nicht genetisch beeinflusste Störungen wie Schizophrenie, die da um sich greifen. Auf "stressbedingte" Leiden führt der Psychiater Karl Dantendorfer den Boom zurück, den er ein Stück weit relativiert: "Es lassen sich heute Leute behandeln, die sich dazu früher nicht durchgerungen hätten." Dantendorfer begrüßt das: "Ich bin froh, dass der Begriff Burnout erfunden wurde." Für eine Depression habe man sich noch geschämt; mit einem Burnout stehe man in einer Reihe mit Stars und Managern.

Allein mit der gesunkenen Scheu vor dem Therapeuten sei das Plus aber nicht erklärbar, meinen die Fachleute - und sehen soziale Gründe. Stressforscher halten die Arbeitswelt für ungemütlicher als früher. Der raue Wettbewerb lasse leistungsschwächere Menschen auf der Strecke, die einst in einem geschützten Bereich durchkamen. Handy und Internet verdammten zur ständigen Verfügbarkeit. Statt reine Befehlsempfänger zu sein, dürften viele Berufstätige zwar selbstständiger arbeiten, doch der vermeintliche Freiraum führe auch zu wachsendem Druck. Umso öfter fehle Eltern Zeit für ihre Kinder - bereits bei Jugendlichen nimmt der Einsatz von Antidepressiva zu.

Vereinsamte Pensionisten

Allerdings sind auch diese Erklärungen angesichts einer - wie Karin Hofer von der Salzburger Krankenkasse meint - "schockierenden" Tatsache unvollständig: Die Hälfte der psychisch Kranken ist über 60; unter den Versicherten beträgt der Anteil nur 23 Prozent. "Vereinsamung" vermuten die Sozialversicherungsexperten als Ursache, weil soziale "Fangnetze" vom Verein bis zur Familie in Auflösung begriffen seien.

Was ist zu tun? Psychotherapeuten klagen über eine "skandalöse" Versorgung wegen einer knausrigen Politik der Krankenkassen; die Aufwendungen für Psychotherapie hätten sich seit 2001 mehr als verdoppelt, hält Klein entgegen. Der Hauptverband will nun eine "Strategie Psychische Gesundheit" entwickeln, doch letztlich sei die Sozialversicherung allein mit der Bewältigung überfordert, meint der Vize-Chef und setzt auf einen Modebegriff: Prävention. Vom Kindergarten über die Schulen bis zum Arbeitsplatz müssten potenzielle Probleme im Frühstadium bekämpft werden - angefangen bei banalen Symptomen. Klein: "Wenn ein Kind nicht mit Messer und Gabel umgehen kann, weil es verwahrlost ist, muss eingegriffen werden - ehe es später in der Sonderpädagogik landet." (Gerald John, DER STANDARD Printausgabe, 18.06.2011)