Zur Zeit wird in den Medien der Vereinigten Staten von Amerika und Europas ausgiebig über Erdogan hergezogen. Es sieht so aus, als hätten die Verfasser der feindseligen Artikel lieber gesehen, dass der Putsch weitergegangen wäre.
putin und erdogan
© Sputnik/ Alexei Nikolsky
Warum zerbrechen sie sich den Kopf über einen Ausnahmezustand und einige Einschränkungen der Menschenrechte in der Türkei, wenn dieselben Maßnahmen aufgrund von weniger gewichtigen Gründen in Frankreich ohne ihre Proteste verhängt wurden? Der französische Präsident Hollande drückte gerade ein neues Arbeitsrecht, das die Öffentlichkeit ablehnt, durch das Parlament, und das ohne Abstimmung und mit sehr nebulosen Verfassungsbestimmungen, die nur für Katastrophen vorgesehen sind. Wo ist der Protest in „westlichen“ Medien und Regierungen gegen eine derartige Untergrabung der Demokratie? (Hervorhebung durch mich, Klaus Madersbacher, Europäer:-)))

Der Putsch in der Türkei ging daneben - bis jetzt. Wie es dazu kam - wer ihn plante, wie er verraten wurde, warum er so amateurhaft verbockt wurde - wird weiterhin rätselhaft bleiben. Einige Antworten erscheinen plausibel, aber es bleiben viele Fragen offen.

Aber das ist nur von historischem Interesse. Die türkische Öffentlichkeit sieht ihn als Militärputsch gegen das Volk, der gottseidank danebenging. Erdogan (so sehr ich ihn auch nicht mag) rettete ihre Demokratie. Dass die Gülen-Bewegung unter den Augen der CIA daran beteiligt war, ist plausibel genug, um als wahr angenommen zu werden. Anders, als „westliche“ Liberale glauben, sind Gülen und seine elitären teuren Schulen in der Türkei nicht beliebt. Die Säkularisten sehen in ihm einen gefährlichen konservativen Islamisten, die Anhänger der AKP eine hinterlistige betrügerische Konkurrenz für ihren Glauben, ihre Ideale und Helden.

Die türkische Öffentlichkeit steht unter Schock. Dass das Militär das Parlament bombardiert und Zivilisten auf derartig chaotische Weise niederschießt, ist noch nie dagewesen. Dass ein seltsamer Prediger in den immer verdächtigen Vereinigten Staaten von Amerika wahrscheinlich dahintersteckt, wird als erwiesen angenommen. Das erlaubt dem Parlament, außergewöhnliche Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Bedenkt man das Ausmaß des Vorfalls und das Trauma, das er verursacht hat, dann ist Erdogans Reaktion (bisher) ziemlich mild.

Die türkische Regierung hat rund 40.000 Leute suspendiert oder entlassen. Fast 10.000 wurden eingesperrt, die meisten von diesen gehören dem Militär an, tragen militärische Ränge und gelten als irgendwie am Putsch beteiligt. Sie werden bald wieder frei sein. Die suspendierten und entlassenen Leute machen nur ein Prozent der 3 Millionen öffentlichen Bediensteten aus. Zusätzlich wurde die Lehrberechtigung von 27.000 privaten Lehrern widerrufen. Diese bilden das Personal von Gülens Privatschulen, die jetzt geschlossen sind.

Nach dem Militärputsch des Jahres 1980 in der Türkei - die Bevölkerung war etwa halb so groß wie heute - war die Zahl der Eingesperrten, Entlassenen, Verurteilten und Hingerichteten um ein Vielfaches größer:

- 650,000 Menschen waren im Gefängnis.

- 1,683,000 Menschen standen auf der Schwarzen Liste.

- 230,000 wurden in 210.000 Gerichtsverfahren verurteilt.

- gegen 7,000 Menschen wurde die Todesstrafe beantragt.

- 517 Menschen wurden zum Tod verurteilt.

Der Militärputsch 1980 gestaltete die Gesellschaft brutal um und presste sie in einen strikt kemalistischen säkularen Rahmen. Man kann den laufenden Gegenputsch als einen Versuch sehen, diese Umgestaltung zu korrigieren oder sogar rückgängig zu machen.

Verglichen mit dem Militärputsch 1980 ist die jetzige Vorgangsweise der Regierung Erdogan sehr gemäßigt. Die Menschen in der Türkei wissen das und machen sich wenig Sorgen. „Westliche“ liberale Autoren, beeinflusst von Gülenkräften, die in ihren Gesellschaften hohes Ansehen genießen, ignorieren diese Tatsache. Ich erwarte nicht, dass Erdogan gegen säkulare oder nationalistische Oppositionsparteien losgeht, solange diese nicht unter dem Einfluss des Auslands stehen. Er verfügt über eine komfortable Mehrheit und hat keinen Grund, den Weg der Demokratie zu verlassen. Das würde nur seinen Plänen für eine islamistische ottomanische Türkei und den weiteren Schritten auf dem Weg dorthin schaden.

Von Interesse ist jetzt die zukünftige Entwicklung der Außenpolitik der Türkei. Die Stromversorgung für den U.S./NATO-Stützpunkt in Incirlik wurde heute wieder aufgenommen, nachdem sie eine Woche lang ohne triftigen Grund stillgelegt war. Die Warnung, die das war, wurde mittlerweile verstanden. Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika oder die NATO zu viel Ärger bereiten, werden sie aus der Türkei hinausgeworfen werden. Bereits vor dem Putsch erneuerte die Türkei die Beziehungen mit Russland und Israel. Der Iran verurteilte den Putsch, noch während dieser im Gang war und die Putschisten zu gewinnen schienen. Das wird ein paar Bonuspunkte abgeben. Die Türkei zog die Truppen zurück, die illegal im Irak stationiert waren. Alle diese Punkte weisen hin auf eine Neuorientierung der türkischen Außenpolitik von einer ausschließlich „westlichen“ zu einer mehr eurasischen Sichtweise.

Die große Frage stellt Syrien dar, dem gegenüber seine Position zu ändern Russland von der Türkei verlangt. Was wird Erdogan in dieser Beziehung machen?

Es bestehen Anzeichen, dass er auch hier seine Politik ändern wird. Es gibt bereits Berichte, dass türkische Geheimagenten in Syrien sich zurückziehen. Die Türkei könnte leicht die Unterstützung für die Jihadis einstellen und ihre Grenzen schließen. Der türkische Zuständige für Syrien war bisher der Geheimdienstchef Hakan Fide. Er rekrutierte, versorgte und kontrollierte die Jihadis und betrieb den gesamten Laden. Es gibt jetzt Anzeichen dafür, dass er bald gefeuert werden wird. Er wird zum Prügelknaben dafür gemacht werden, dass er den Putsch nicht früh genug entdeckt hat.

Der stellvertretende Premierminister Nurettin Canikli sagte am Freitag, dass tiefgehende Änderungen beim nationalen Geheimdienst der Türkei (MIT) stattfinden werden.

... „Es ist sehr klar, dass in unserem Geheimdienst signifikante Lücken und Mängel bestanden haben, und es hat keinen Sinn, das zu verbergen oder abzustreiten. Ich habe das dem Chef des nationalen Geheimdienstes gesagt,“ sagte Präsident Erdogan in einem Interview im Präsidentenpalast in Ankara zu Reuters.

Die größten Sorgen der Türkei bilden jetzt die Kurden, die die militärische Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika für die Vereinigung und Bildung eines unabhängigen Staates mit riesigen Erdölreserven zu haben scheinen.

Ich erwarte, dass die Türkei sich mit den Regierungen in Teheran, Bagdad und Damaskus (mit Russland als starker Macht hinter sich) wieder verträgt, um die gemeinsame Gefahr eines unabhängigen Kurdenstaates abzuwehren. Der Plan wird sein, die Kurden in verschiedene Fraktionen aufzuspalten und diese gegeneinander kämpfen zu lassen. Das ist üblicherweise nicht schwierig, hat seit hunderten Jahren „gut“ funktioniert und immer die Kurden davon abgehalten, einen vereinigten Nationalstaat durchzusetzen.

Weder der Iran noch Russland noch Syrien noch der Irak werden der Türkei vertrauen. Sie werden auf jedes kleine Zeichen achten, dass sie in eine feindselige Position zurückfallen könnte, und werden auf Verrat vorbereitet sein. Erdogan wird Jahre brauchen, die guten Beziehungen mit ihnen allen wiederherzustellen. Aber irgendwo muss er anfangen. Die Außenpolitik der letzten Jahre hat der Türkei nichts als große Probleme eingetragen. Der verpfuschte Putsch gibt Erdogan die Chance, die Richtung komplett zu ändern, und das schnell. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die NATO, Saudiarabien und die Vereinigten Arabischen Emirate werden versuchen, diese Änderungen zu untergraben. Die laufenden Erdogan-Beschimpfungen gehören dazu. Sie werden allerdings nichts ausrichten, weil sie in der Türkei keinen Widerhall finden.

Dem Rat des Iran folgend hält Erdogan sein Volk auf den Straßen und Plätzen. Der erste Anlauf des CIA-Putsches 1953 im Iran am 15. August ging daneben. Vier Tage später war ein weiterer Versuch erfolgreich. Die Gefahr für die türkische Demokratie ist noch nicht vorbei.