© Daniel SmithEin Stammesältester der Agta erzählt eine Geschichte.
London (Großbritannien) - Bislang galten die ersten organisierte Religionen, also der Glaube an übermächtige und auch strafende Götter, als Stifter der Regeln und Werte des sozialen Zusammenlebens. Eine neue Studie englischer Wissenschaftler zeigt nun, dass schon vor der Entstehung der Religionen, die Geschichtenerzähler die gleiche Funktion in den Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften erfüllten - und bis heute erfüllen.Wie das Team um den Anthropologen Daniel Smith, Andrea Migliano und Lucio Vinicius vom University College London aktuell im Fachjournal
Nature Communications (DOI:
10.1038/s41467-017-02036-8) berichtet, bildeten die Geschichten dieser Märchenerzähler die Grundlage für das soziale Zusammenleben und die gemeinschaftlichen Werte - und das lange bevor vergleichbare Mechanismen in den größeren Agrargemeinschaften durch moralisierende hohe Götter entstanden.
Die Forscher berichten auch,
dass es diese Geschichtenerzähler waren, die in ihren Gemeinschaften sogar noch angesehener und beliebter waren, als die besten Wildbeuter. Dieser soziale Stand drückte sich sogar in einer höheren Reproduktionsrate dieser Geschichtenerzähler aus.
Grundlage der Studie ist eine Untersuchung der Forscher am Beispiel einer Gruppe der sogenannten Agta, einer bis heute noch überdauernden Jäger-und-Sammler-Gemeinschaft auf den Philippinen, die direkt von den ersten dortigen Siedlern von vor mehr als 35.000 Jahren abstammen.
Die Forscher baten drei der Ältesten der Agta, ihnen jene Geschichten zu erzählen, die sie für gewöhnlich ihren Kindern und untereinander erzählen. Das Ergebnis waren vier Erzählungen, die sich über drei Nächte hinwegzogen. Die Wissenschaftler stellten fest,
dass alle Geschichten vermenschlichte Natureinheiten wie Tiere oder Himmelskörper zum Inhalt hatten und sozial-koordinierende Normen zum Gruppenverhalten des Stammes beschrieben.
Eine Geschichte erzählte von der männlichen Sonne, die sich mit dem weiblichen Mond über die Frage zerstritten hatte, wer den Himmel beleuchten solle - bevor sie sich schlussendlich darüber einigten, sich diese Aufgabe - jeweils bei Nacht Tag - zu teilen.
"In der Geschichte geht es um die Gleichberechtigung unter den Geschlechtern, wie sie in vielen Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften zu finden ist, sowie deren Arbeitsteilung", so die Forscher.
In ihrer Arbeit zeigen die Anthropologen zudem, dass 70 Prozent von 89 untersuchten Geschichten von sieben unterschiedlichen Stämmen, Elemente der Bestärkung und Regelung des sozialen Zusammenlebens finden.
"Diese Geschichten scheinen das Gruppenverhalten zu regeln und die Zusammenarbeit durch die Vorlage sozialer Informationen und Normen, Regeln und Erwartungen der Gemeinschaften zu stärken", so Smith.
Diese Deutung bestätigend stellten die Forscher zudem
in jenen Agta-Gemeinschaften mit einem höheren Anteil an begabten Geschichtenerzählern auch ein höheres Niveau der Zusammenarbeit zwischen den Gruppenangehörigen fest.
In ihrer Studie befragten die Forscher zudem nahezu 300 Mitglieder von 18 Agta-Gemeinschaften, mit wem sie am liebsten zusammenleben würden. Hierbei zeigte sich, dass begabte Geschichtenerzähler fast doppelt so oft genannt wurden als Individuen mit einer geringeren Begabung im Geschichtenerzählen.
Die Forscher vermuten, dass dies an dem Umstand liegt, dass die Geschichtenerzähler als Gegenleistung für Ihre Fähigkeit eine erhöhte soziale Unterstützung erfahren und 0,53 mehr Kinder bekommen als weniger begabte Personen in den Gruppen.
"Das Geschichtenerzählen könnte von grundlegender Bedeutung für die Organisation des menschlichen Sozialverhaltens (gewesen) sein, in dem es die Zusammenarbeit bewarb, gemeinschaftliche Normen und die Strafen für Zuwiderhandlungen aufzeigte", so Smith.
"Die Religionen von Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften kennen in der Regel keine moralisierenden Götter und dennoch weisen diese Gemeinschaften einen hohen Grad an Zusammenarbeit im Sinne des Gemeinwohls auf. Somit kann das Geschichtenerzählen als Vorgänger der später höher entwickelteren Erzählformen der Götter-Religionen der landwirtschaftlich geprägten Kulturen angesehen werden", erläutert Andrea Migliano abschließend.
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