Gehirn
© RapidEye / Getty Images / iStock
Vorne ein Gehirn, dahinter ein Nervenstrang: Bisher hielt man dies für ein uraltes gemeinsames Konzept. Doch Gen-Daten zeigen, dass viele Tiergruppen unabhängig voneinander Gehirne entwickelten.

Auf den ersten Blick sind sich die Nervensysteme von Menschen und Fliegen recht ähnlich. Neue Forschungsergebnisse deuten aber darauf hin, dass der Unterschied zwischen ihnen grundlegender ist als bisher vermutet. Demnach entstanden die Strukturen des Zentralnervensystems in den verschiedenen Untergruppen der zweiseitig-symmetrische Tiere (Bilateria) im Verlauf der Evolution unabhängig voneinander. Wie eine Gruppe um José M. Martín-Durán von der University of Bergen in Nature berichtet, unterscheiden sich die genetischen Mechanismen der Nervensystementwicklung zwischen Ringelwürmern, Armfüßern und Rädertierchen so stark, dass ein gemeinsamer Ursprung unwahrscheinlich ist. Offenbar ist das Gehirn kein gemeinsames Merkmal der Bilateria, sondern das Ergebnis konvergenter Evolution. Dass diese Nervensysteme sich in ihrem Aufbau ähneln sowie in manchen Mechanismen ihrer Entwicklung, ist also womöglich nur ein Nebeneffekt des zweiseitigen Körperbaus.

Hintergrund der Forschungsarbeit ist die recht neue Entdeckung, dass das eigentlich für die Bilateria grundlegende Prinzip eines zentralen Nervenstrangs, der von einem großen Gehirn ausgeht, nicht bei allen zweiseitig-symmetrischen Tieren verwirklicht ist. Die Spielverderber sind die erst 2009 beschriebenen Xenacoelomorpha. Diese wurmähnlichen Tiere zeigen eine ungewöhnliche Vielfalt an Nervensystemstrukturen: Manche von ihnen ähneln eher den Nesseltieren, die nicht zu den Bilateria gehören, andere haben gleich mehrere Nervenstränge. Bisher dachte man, diesen Tieren sei das typische Gehirn-Nervenstrang-System in späterer Zeit wieder verloren gegangen. Martín-Durán und seine Arbeitsgruppe widersprechen dem nun: Vielmehr hatten die frühesten Bilateria wohl gar kein Gehirn.

Das Team untersuchte anhand der evolutionär sehr alten Homöobox-Gene, die die Entwicklung des Körpers steuern, die genaue genetische Organisation der Nervensystementwicklung in den Spiralia. Zu dieser Gruppe gehören unter anderem Regenwürmer, Rädertierchen und Armfüßer. Das überraschende Ergebnis: Es gibt keine typische konservierte Organisation des zentralen Nervensystems, nur strukturelle Ähnlichkeiten, vermutlich weil die spiegelsymmetrische Körperstruktur als Schablone fungiert. In den Details zeigt sich aber, dass die untersuchten Tiere einzelne der Homöobox-Gene im Nervensystem in unterschiedlichen Funktionen nutzen können. Damit ist sehr unwahrscheinlich, dass die Zentralnervensysteme alle den gleichen Vorläufer haben: Das Gehirn wurde mehrfach erfunden.