Im Missbrauchsfall von Lügde ist die Zahl der mutmaßlichen Opfer gestiegen. Wegen der Dimension des Falls gründet die Polizei eine neue Ermittlungskommission. Hinweise auf Behördenfehler werden konkreter.
campingplatz lügde
© DPABlick auf ein Gebäude auf dem Campingplatz Eichwald
Auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde sollen mehr als 20 Kinder sexuell missbraucht worden sein. Eines der mutmaßlichen Opfer ist die Pflegetochter des Hauptverdächtigen Andreas V. Jugendämter und Polizei stehen in der Kritik, Hinweise möglicherweise nicht ernst genommen zu haben. Nun wurde klar, dass diese offenbar konkreter waren, als bislang bekannt.

Die Ermittlungen gegen V. und zwei weitere Männer hat aufgrund von "Umfang und Bedeutung des Verfahrens" das Polizeipräsidium Bielefeld führend übernommen, wie die Behörde mitteilte. Dies sei in enger Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft Detmold geschehen. Eine Ermittlungskommission "Eichwald" werde eingerichtet. Sie soll sich aus Ermittlern der vorherigen Ermittlungskommission "Camping" in Lippe und Bielefelder Kriminalpolizisten zusammensetzen. "Insbesondere die große Menge sichergestellter digitaler Daten macht es erforderlich, weitere Fachleute anderer Polizeibehörden aus NRW in die Bearbeitung einzubinden", heißt es weiter.

Die Vorwürfe gegen die Behörden sollen demnach "auch aus Neutralitätsgründen" im Rahmen der Kommission gesondert behandelt werden.

Bereits 2016 gab es mehrere Hinweise, die auf sexuellen Missbrauch hindeuten konnten. So kam Ende des Jahres ein Hinweis aus dem Jobcenter Blomberg, nachdem Andreas V. am 18. November gemeinsam mit dem Kind zu einem Termin erschienen war.

Die zuständige Mitarbeiterin wandte sich einige Wochen danach mit einem schriftlichen Gedächtnisprotokoll an die Polizei in Lippe. Das bestätigte der Detmolder Oberstaatsanwalt Ralf Vetter dem SPIEGEL. In dem Protokoll habe die Mitarbeiterin von Äußerungen des Mannes und des Kindes berichtet. Das Mädchen soll demnach gesagt haben, es ekele sich vor Männern. Andreas V. habe erzählt, das Kind würde ihn heiß machen und dann plötzlich nicht mehr wollen. So seien halt Frauen. Für Süßigkeiten würde das Mädchen alles machen.

Befasst mit dem Fall waren die Jugendämter in Lippe und in Hameln-Bad Pyrmont. "Beide Jugendämter wussten von dieser Meldung", sagte Vetter. Ein Sprecher des Jugendamts Lippe wollte sich zu den Vorwürfen auf Nachfrage nicht äußern. Man wolle die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abwarten.

In einer Mitteilung des Jugendamtes Lippe hatte es am Mittwoch geheißen: Die Anzeige der Jobcenterin-Mitarbeiterin habe sich auf den Verdacht der Verwahrlosung eines Kindes bezogen, nicht auf sexuellen Missbrauch. Die Mitarbeiterin des Jobcenters hatte auch mitgeteilt, das Kind sei verdreckt gewesen und trotz der kalten Jahreszeit in Sommerkleidung erschienen.

"Die Wohnsituation war sicherlich nicht optimal"

Tatsächlich überprüfte das Jugendamt Hameln-Pyrmont auch auf Empfehlung aus Lippe Ende 2016 die Unterbringung des Mädchens auf dem Campingplatz (Mehr zu den Abläufen lesen Sie hier). Augenscheinlich lebten Andreas V. und seine Pflegetochter auf einer unordentlichen Parzelle. "Die Wohnsituation war sicherlich nicht optimal, hat im Vergleich zu einer funktionierenden sozialen Bindung allerdings einen deutlich geringeren Stellenwert und begründet keine Kindeswohlgefährdung", teilte das Jugendamt Hameln-Pyrmont am Freitag mit. Das Wohnverhältnis sei kein Indiz für Missbrauch, "denn der kann hinter jeder Fassade und in jedem Milieu stattfinden".

Am Donnerstag hatte eine Sprecherin dem SPIEGEL gesagt, einen Hinweis auf sexuellen Missbrauch habe man in Zusammenhang mit Andreas V. nie erhalten. In der Mitteilung vom Freitag heißt es nun, ohne klaren Bezug auf die neuen Erkenntnisse zum Hinweis der Jobcenter-Mitarbeiterin, man wolle sich "nicht zu spekulativen Schuldzuweisungen äußern".

Die Staatsanwaltschaft Detmold ermittelt gegen Mitarbeiter beider Jugendämter und gegen die Polizei Lippe, die damals den Hinweis der Jobcenter-Mitarbeiterin entgegennahm.

Unterdessen ist die Zahl der mutmaßlichen Opfer von 23 auf 29 gestiegen. Die Polizei Bielefeld teilte mit, dass es nach einer Pressekonferenz am Mittwoch Informationen über weitere Betroffene gegeben habe.

bbr/sms