Angestachelt von Premier Cameron verhängen Großbritanniens Richter drakonische Strafen gegen Plünderer und Anstifter. Selbst in der Unterschicht kommt das gut an.

Wenn mehr als zwei Drittel der Bevölkerung nach einem kurzen Prozess schreien, zerbröselt der Rechtsstaat. Und jeder Gerechtigkeitssinn. Dann dienen Gefängnisstrafen nicht mehr dem Zweck, die Gesellschaft zu schützen und Täter zu rehabilitieren. Sie erfüllen nur noch das Verlangen nach Vergeltung.
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© Dan Kitwood/Getty Images Ein wegen der Krawalle angeklagter Mann verlässt das Gericht gegen Kaution.

Englische Gerichte verhängen seit Wochen in Schnellverfahren drakonische Strafen gegen Anstifter und Mittäter der Unruhen am zweiten August-Wochenende. Ein Richter im nordenglischen Chester verurteilte zwei junge Männer zu jeweils vier Jahren Gefängnis, sie hatten ihre Freunde über Facebook zu Aufruhren in ihren Wohnorten angestachelt. Keiner war gekommen. Ein Bezirksrichter in Manchester belehrte einen 22-Jährigen, der eine Portion Eiscreme aus einer geplünderten Patisserie geklaut hatte. Er sei verpflichtet, schnell und hart mit Straftätern wie ihm zu verfahren und verwies den Fall an ein höheres Gericht, das eine ausgedehnte Haftstrafe verhängen kann.

Die Unruhen werden mehr als 3.000 Verfahren nach sich ziehen. 1.300 Fälle wurden bereits durchgezogen. Gegen einen scheinbar unkohärenten Mob, der Ladenfenster einwarf, Häuser anzündete, Polizeiwagen zertrümmerte und sich als Revolutionäre gebärdete. Gegen Studenten und Abiturienten, die sich der Verführung des Augenblicks nicht entziehen konnten. Gegen Obdachlose, die eine Schachtel Zigaretten oder eine Flasche Mineralwasser mitgehen ließen. Gegen Gewohnheitsdiebe, die glaubten, bei der Gelegenheit ungestraft ihrem Handwerk nachgehen zu können. Vor allem aber gegen die Mitglieder der gefürchteten Londoner Jugendbanden.

Liberale Granden erhoben Einspruch. Lord MacDonald, ehemaliger Generalstaatsanwalt und Mitglied des Oberhauses, warnte die Gerichte vor einem kollektiven Verlust von Verhältnismäßigkeit und "ohne Rücksicht auf Gerechtigkeit und Humanität" verhängten Strafen. Lord Carlile, ehemaliger Terrorberater der Regierung, warnte, es helfe gar nichts, nur die Gefängnisse voll zu stopfen. Der ehemalige Liberalenführer Sir Menzies Campbell ermahnte Politiker, die Gerichte nicht zu immer schärferem Vorgehen anzustacheln.

Doch die tun genau das. Allen voran der 2010 als liberalkonservativer Neuerer angetretene Premierminister David Cameron. Jetzt brechen bei ihm die Recht- und Ordnungsinstinkte eines Thatcher-Torys durch. Und ein gerütteltes Maß Populismus. Das Volk ruft nach Rache. Eine überwältigende Mehrheit, fand eine vom Guardian in Auftrag gegebene Umfrage nun heraus, unterstützt die harte Linie von Justiz und Politik. 70 Prozent beantworteten die Frage, ob bei den Unruhen des Diebstahls oder anderer Delikte überführte Personen härtere Gefängnisstrafen als üblich erhalten sollten, um ein Exempel zu statuieren, mit Ja.

Nur 25 Prozent hielten die Ausnahmejustiz für verkehrt. Fünf Prozent hatten keine Meinung - ein Hinweis darauf, wie sehr die Gesellschaft das Thema diskutiert. Bei einer detaillierteren Betrachtung des Umfrageergebnis überrascht es kaum, das konservative Wähler mit 82 Prozent am solidesten hinter den Gerichten stehen. Doch auch Liberale (60 Prozent) und Labouranhänger (62 Prozent) votieren mit großer Mehrheit für ein superhartes Vorgehen. Und Frauen sind mit 74 Prozent die robusteren Anhänger der neuen Zucht als Männer (66 Prozent).

Was im Ausland am meisten überraschen mag, ist das Ergebnis, dass vier von fünf Angehörigen der untersten Gesellschaftsschichten, also jener, die in der Vorstellung vieler deutscher Zeitungsleser und Fernsehbetrachter in jenen Tagen aufbegehrten, drakonische Strafen befürworten. Die obere Mittelschicht und die Upper Class ist am liberalsten.

Das verwundert nicht. Die Hauptleidtragenden der Londoner Dauerkriminalität und des Terrors der Jugendbanden sind die Bewohner der Armenviertel. Viele Eltern können sich gegen ihre außer Rand und Band geratenen Kinder nicht wehren. Das trifft auf die unselige englische Arbeiterklasse ebenso zu wie auf Zugezogene, deren traditionelle Familienstrukturen dem neubritischen Materialismus und seiner Religionsfeindlichkeit sowie der urbanen Drogen- und Trinkkultur zum Opfer fallen.

Zahllose Eltern, die ihren Sprösslingen in diesem heillosen Klima vergeblich beizubringen versucht hatten, was richtig und was falsch ist, lieferten sie nach den Unruhen der Polizei aus. Die liberale Mittelschicht klammert sich unterdessen immer noch an die feinsinnigen Vorstellungen der New-Labour-Elite, dass man den Straßenkindern nur dieselben Möglichkeiten einräumen müsse wie den eigenen Kindern. Gutbürgerlich-fromme Programme für Museumsbesuche und zur Kunsterziehung. Freien Zugang zu Büchereien. Jugendklubs. Neue Schulen mit gutbezahlten Lehrern. Dann würden sich alle soziale Probleme lösen.

Ausgerechnet Tony Blair hat nun erkannt, dass die alten Methoden und Vorstellungen nicht greifen. Er plädiert in einem Artikel im Observer für eine spezifische Lösung für ein spezifisches Problem. Er sieht den Grund der Unruhen - damit hat er ganz sicher Recht - nicht in einem generellen moralischen Niedergang der Nation, sondern in dem einer kleinen Gruppe Jugendlicher, denen der gesellschaftliche Mainstream und seine Verhaltensmuster völlig fremd sind. Familie für Familie müsse dieses Problem angegangen werden. Nicht geholfen sei diesen Jugendlichen mit den üblichen Sozialprogrammen. Und mit härteren Strafen auch nicht.