Es ist kurz nach neun Uhr abends am Donnerstag, als die Menschen am Niederrhein in der Gegend von Goch einen dumpfen Knall, ein Rauschen und ein Grollen hören. Hunde werden unruhig, dann bebt die Erde zweimal. Gläser in Vitrinen klirren, wie von Geisterhand bewegen sich Sessel und Betten. Menschen verlassen fluchtartig ihre Häuser. Einige glauben an einen Flugzeugabsturz am Niederrhein-Flughafen Weeze, andere an eine Explosion.

"Ich bin nach oben gerannt und habe die Kinder aus den Betten geholt", erinnert sich die Rechtsanwaltsfachangestellte Sabine Wasel am Morgen nach dem Beben, das die Stärke 4,4 hatte. "Ich hab an einen Flugzeugabsturz gedacht", sagt die 36-Jährige. Wasel hörte zuerst ein Grollen, während der 65-jährige Günter Wienrich auf der Terrasse ein "zischendes Rauschen" wahrnahm. "Dann kamen zwei Stöße hintereinander, erst ein leichter, dann ein schwererer", sagt er. Die Leute am Niederrhein haben schon öfter Erdbeben erlebt. "Aber das hier war schon grenzwertig", sagt Wienrich. Auch wenn das Beben keine Schäden angerichtet hat, so war es doch für Deutschland relativ stark.

Auch im Vogtland hatte in dieser Woche die Erde gebebt. Am 4. September morgens um 5.52 Uhr wackelten die Wände. Noch 100 Kilometer entfernt, bis nach Chemnitz und Altenburg in Thüringen, war das zu spüren. Mit der Stärke 4,0 auf der Richterskala ist es der bisherige Höhepunkt einer Reihe von Beben im Südosten Deutschlands. Seit dem 23. August hat die Erde in dieser Region Hunderte Male gezittert. Die Experten nennen das "Erdbebenschwärme". Das Zentrum dieser Minibeben liegt rund zehn Kilometer unter der Ortschaft Nový Kostel in Tschechien - 40 Kilometer östlich von Hof. Geophysiker machen einen Urzeitvulkan für die Beben verantwortlich. Obwohl er vor 300 000 Jahren erloschen ist, sendet er nun wieder Lebenszeichen. Magma drängt vom Erdinneren gegen den Erdmantel. Das vom Magma erhitzte Grundwasser steigt auf und quetscht sich in Gesteinsritzen. Irgendwann gibt der Fels nach - es bebt.

Erdbebenschwärme in dieser Region tauchen alle paar Jahre auf und wurden schon im 16. Jahrhundert registriert. Zuletzt bebte der Boden im Vogtland im Herbst 2008 um die 20 000 Mal. Davor geschah es im Herbst 2000 und im Winter 1985/86. Das stärkste Beben hatte eine Magnitude von 4,6. Durch die vielen kleinen Beben wird die Spannung im Gestein entschärft - die Gefahr starker Stöße sinkt.

Chroniken geben Auskunft

Schwache Beben mit einer Stärke um 4,0 sind auch in anderen Regionen Deutschlands nicht selten. Doch auch stärkere treten auf. "Wir haben in Deutschland Erdbeben der Stärke 5,0 bis 5,9 etwa alle zehn Jahre", sagt Seismologe Nicolai Gestermann vom Seismologischen Zentralobservatorium der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover.

Mit Messgeräten werden Erdbeben erst seit 100 Jahren systematisch erfasst. Vor dieser Zeit protokollierte man nur besonders große Erdbeben. Aufschluss über derartige Ereignisse geben alte Zeitungen oder Stadt- und Klosterchroniken. Die stärksten Beben sind in Deutschland Jahrzehnte her und meist aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden. Am 13. April 1992 bebte es etwa im niederländischen Roermond. Dieses Erdbeben der Stärke 5,9 war hierzulande das stärkste Beben, seit es Messeinrichtungen gibt. Mehr als 30 Menschen wurden damals verletzt. Und auch der Kölner Dom trug Schäden davon. Viele Häuser wurden beschädigt und mussten abgerissen werden. Laut Geophysiker Klaus Hinzen von der Universität Köln wird die Erde in Deutschland nur alle 100 Jahre so stark durchgerüttelt. Weitere starke Erdbeben mit einer Magnitude um die 6,0 ereigneten sich 1911 in Albstadt-Ebingen (6,1), 1878 in Tollhausen am Niederrhein (5,9) sowie 1756 in Düren. Das Erdbeben von Düren zählt mit einer Magnitude von rund 6,2 zu den schwersten Beben, die sich bislang in Deutschland ereignet haben. Es gab erhebliche Schäden an Gebäuden, 300 umgestürzte Schornsteine und zwei Tote.

Ist Deutschland ein Erdbebenland? Ja, sagt Hinzen. "Wir sind sicher nicht vorne, was die Erdbebengefährdung weltweit angeht, dennoch können in Anbetracht der dichten Besiedlung starke Schäden entstehen." In Deutschland gibt es insgesamt vier Erdbebenregionen: die Schwäbische Alb, der Oberrheingraben, die Niederrheinische Bucht und das Vogtland. Erdbeben mit einer Magnitude von über 4,0 treten hier mehrmals im Zeitraum eines Menschenlebens auf.

Wieso kommt es in Deutschland überhaupt zu Erdbeben, wo wir doch gar nicht an den Rändern einer tektonischen Platte leben? Obwohl mit 95 Prozent die meisten Erdbeben tatsächlich an den Rändern der Erdplatten auftreten, gibt es auch innerhalb dieser Platten Störungszonen. Im Fachjargon werden die dort entstehenden Beben Intraplattenbeben genannt. Da sie deutlich seltener auftreten als die klassischen Beben an den Plattenrändern, gibt es auch weniger Beobachtungsmaterial. "Über diese Intraplattenseismizität wissen Geoforscher deutlich weniger als über die Erdbeben an den Plattenrändern", erklärt Hinzen und gibt zu bedenken: "Doch die Intraplattenseismizität ist sehr heimtückisch. Wenn so was nicht an der Tagesordnung ist, unterschätzt man die Gefahr, die davon ausgeht, leicht." Für die Niederrheinische Bucht, in der etwa Köln liegt, gehen Hinzen und seine Kollegen davon aus, dass die stärksten möglichen Beben durchaus an eine Magnitude von 7,0 heranreichen können. Solche Beben wären zwar selten, aber nicht unmöglich.