Nach einer stürmischen Nacht befinden sich weite Teile Deutschlands »zwischen den Orkanen«: Einsatzkräfte kämpfen noch mit den Auswirkungen von »Ylenia«, Meteorologen warnen schon vor »Zeynep«.
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© B&S/Bernd März / imago images/Bernd MärzUmgestürzter Baum in Chemnitz: In fast allen Teilen Deutschlands mussten die Rettungskräfte dauernd ausrücken
Ein paar Menschen sitzen an Bord eines Schiffs, als eine Welle die Scheibe am Bug trifft. Die Scheibe birst. Die Menschen springen auf, innerhalb von Sekunden steht Wasser auf dem Boden: Ein Video, das in den sozialen Netzwerken kursiert, zeigt diese Szene, die sich am Morgen auf einer Hafenfähre in Hamburg abgespielt hat. Ein Polizeisprecher bestätigte dem SPIEGEL den Vorfall, bislang gibt es keine Informationen über Verletzte.


Die Polizei und das Betreiberunternehmen Hadag wollen nun rekonstruieren, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Das zerschlagene Glas ist nur eine - wenn auch aufsehenerregende - Folge des heftigen Sturmtiefs »Ylenia«, mit dem Menschen in weiten Teilen Deutschlands am Donnerstag zu kämpfen haben. Aktuell hat sich das Wetter etwas beruhigt, man befinde sich »zwischen den Orkanen«, sagte ein Sprecher des Deutschen Wetterdiensts (DWD) dem SPIEGEL.

Hier ein Überblick über die (Wetter-) Lage, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Verkehrsbehinderungen

Der Sturm führte zu großflächigen Störungen des Zugverkehrs. Die Deutsche Bahn (DB) stellte den Fernverkehr in der Nordhälfte aus Sicherheitsgründen ein, auch der Nah- und Regionalverkehr waren betroffen.

Nach Angaben der Bahn fuhren am Donnerstag bis auf Weiteres keine Fernzüge in Regionen nördlich der Bahnhöfe von Münster, Hamm, Kassel, Magdeburg und Berlin. Auch einzelne Fernverbindungen im Süden waren betroffen, etwa eine ICE-Verbindung bei Passau in Richtung Wien. Zu Verspätungen und Zugausfällen kam es demnach auch im Regional- und Nahverkehr.

Ein Bahnsprecher warnte Reisende vor bundesweiten Auswirkungen auch in nicht direkt vom Sturm betroffenen Gebieten. Reisen sollten möglichst verschoben werden, sagte er. Der Stopp des Eisenbahnverkehrs sei eine »Vorsichtsmaßnahme« aufgrund von Erfahrungen mit früheren Extremwetterlagen. Es sei besser, Züge in Bahnhöfen zurückzuhalten, statt sie auf freier Strecke stoppen zu müssen. Dort könnten Reisende sehr viel schlechter betreut werden.

Inzwischen hat die Deutsche Bahn mit Aufräumarbeiten begonnen. »Für eine Schadensaufnahme ist es noch zu früh, die Schäden sind aber erheblich«, sagte Bahnsprecher Achim Stauß. »Im Moment sind Reparaturtrupps der Bahn mit Hochdruck unterwegs, um Strecken freizuräumen, mit der Kettensäge Bäume zu schneiden oder auch Oberleitungen zu reparieren, was bei diesen Wetterbedingungen nicht ganz einfach ist.«

Wegen des andauernden Sturms sei mit weiteren Störungen zu rechnen. Probleme werde es auch durch die zweite erwartete Sturmfront geben, sagte Stauß. »Ich fürchte, unsere Reisenden müssen noch über einen längeren Zeitraum mit Einschränkungen leben.«

Einschränkungen wurden derweil auch für den Flugverkehr gemeldet. Passagiere am Flughafen Berlin Brandenburg International brauchten am Vormittag Geduld. Wegen starker Windböen war die Flugzeugabfertigung stark eingeschränkt, es kam zu Verspätungen, wie ein Sprecher der Betreibergesellschaft sagte. Am größten deutschen Flughafen in Frankfurt am Main waren nach Betreiberangaben Verbindungen mit Berlin, München und Hamburg betroffen. Am Flughafen Hamburg fielen rund ein Dutzend Flüge aus.

Das Sturmtief zwingt auch Schiffsreisende zur Geduld. Weil die Elbe derzeit für große Schiffe gesperrt ist, darf etwa das Kreuzfahrtschiff »Aidaprima« nicht wie geplant den Hamburger Hafen anlaufen, wie eine Sprecherin der Hafenbehörde HPA sagte. Auch der Fährverkehr wurde vielerorts vorübergehend eingestellt, etwa in Lübeck oder Rostock.

Stromausfälle

Vielerorts saßen die Menschen zumindest vorübergehend im Dunklen: In Bayern verzeichnete der größte Stromnetzbetreiber, Bayernwerk Netz, 10.000 Betroffene, wie ein Sprecher sagte. In Nordrhein-Westfalen fiel für etwa 54.000 Haushalte in der Nacht zu Donnerstag der Strom aus, das teilte der Betreiber Westnetz auf Twitter mit. Später waren demnach rund 20.000 Menschen in den Regionen Arnsberg, Niederrhein, Siegen und Osnabrück in Niedersachsen betroffen.

Ursache für die Ausfälle waren häufig auf Leitungen gestürzte Bäume. Meist wurde die Versorgung demnach schnell wieder hergestellt.

Auch in Brandenburg und Sachsen kam es zu Stromausfällen, wie unter anderem der RBB und der MDR berichteten.

Hochwasser

In Hamburg wurde am Morgen der Fischmarkt erneut überflutet. »Am Pegel St. Pauli wurde gegen 5.00 Uhr ein Wert von 1,98 Meter über dem mittleren Hochwasser (MHW) gemessen«, sagte ein Sprecher des Sturmflutwarndienstes des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) in Hamburg. An der Nordseeküste spricht das BSH ab 1,5 Meter über MHW von einer Sturmflut. Von einer schweren oder sehr schweren Sturmflut wird erst ab Werten von 2,5 beziehungsweise 3,5 Meter gesprochen.

An der schleswig-holsteinischen Nordseeküste gab es in einigen Orten eine Sturmflut - in Husum etwa wurde ein Pegelstand von 1,64 Meter über dem mittleren Hochwasser gemessen. An vielen anderen Pegeln blieben die Wasserstände allerdings unter dem Wert einer Sturmflut.

Auch für Donnerstagnachmittag und Freitagfrüh besteht an der Nordseeküste die Gefahr einer Sturmflut. Diese seien durchaus normal, in der Häufigkeit wie im Moment jedoch schon ungewöhnlich, sagte der BSH-Sprecher.

In Thüringen haben Niederschläge und die Schneeschmelze die Wasserstände in den Flussgebieten von Werra, Ilm und Gera steigen lassen. Dennoch habe sich die Lage weniger schlimm entwickelt als erwartet, sagte der Sprecher des Landratsamtes Hildburghausen, Tim Pechauf. Dabei habe »Ylenia« sogar eine positive Rolle gespielt: »Offenbar hat der Sturm die Regenwolken zum Teil weggeweht.«

Das bestätigte auch das Thüringer Landesamt für Umwelt, Bergbau und Naturschutz: »Die Niederschläge in der vergangenen Nacht fielen in den Hochlagen des Thüringer Waldes weniger kräftig aus als vorhergesagt.«

Die Harzwasserwerke bereiten sich auf weitere Regenfälle und Schneeschmelzen vor. Noch sei die Lage an den Talsperren und Seen im Harz »angespannt, aber unter Kontrolle«, sagte eine Sprecherin.

Das Unternehmen rechne derzeit mit 30 bis 60 Millimeter Niederschlag bis zum Beginn der kommenden Woche, sagte die Sprecherin. Ziel sei es, das bevorstehende Hochwasser komplett durch die Talsperren abzufangen und so das Harzvorland zu schützen.

Unfälle

Aus weiten Teilen Deutschlands meldeten die Feuerwehren und Polizeien sturmbedingte Unwettereinsätze. In der Regel berichteten die Helfer etwa von umgestürzten Bäumen und beschädigten Dächern - in Berlin waren es laut Feuerwehr allein seit neun Uhr mehr als 600 wetterbedingte Einsätze. Vereinzelt kam es jedoch auch zu gravierenderen Vorfällen.

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In Niedersachsen kam ein Autofahrer zu Tode. Er war am Donnerstagmorgen gegen neun Uhr auf der L252 zwischen Bad Bevensen und Seedorf im Landkreis Uelzen unterwegs, als ein Baum auf seinen Pkw stürzte und ihn erschlug. Wie ein Sprecher der Feuerwehr bestätigte, war der 37-Jährige sofort tot.

Auch in Sachsen-Anhalt im Landkreis Masfeld-Südharz gab es einen Sturmtoten: Ein 55-Jähriger starb auf einer Landstraße. Ein Baum sei durch den starken Wind auf den Wagen des Mannes gefallen, teilte die Polizei mit.

Im schleswig-holsteinischen Krempe stürzte ein junger Elektro-Roller-Fahrer durch den Sturm und verletzte sich schwer. Laut Polizei wurde der 16-Jährige auf einer Brücke von einer Böe erfasst und prallte gegen das Brückengeländer. Er kam in ein Krankenhaus.

Ein 15 Meter hoher Antennenmast stürzte in Berlin im Sturm auf die Ringbahn. Die Feuerwehr rückte mit einem Kran aus, um die Strecke freizuräumen, wie ein Sprecher sagte. Die Berliner Feuerwehr rief sowohl in der Nacht als auch am Donnerstagvormittag den Ausnahmezustand aus.

Im niedersächsischen Wilhelmshaven sind Bäume auf zwei Häuser in Wohngebieten gefallen. In Dorsten und Marienheide bei Gummersbach in Nordrhein-Westfalen kollidierten am Mittwochabend und Donnerstagmorgen Regionalzüge mit umgewehten Bäumen oder Baumteilen.

Die Aussichten

Nach einer kurzen Beruhigung soll schon am Freitag Tief »Zeynep« erneut für Sturm sorgen. Man gehe davon aus, dass das »ein noch gefährlicherer Orkan« werde als »Ylenia«, sagte der DWD-Sprecher dem SPIEGEL. Besonders schwer werde ab dem späten Nachmittag wahrscheinlich der Norden von Ostfriesland bis nach Bremen getroffen. In der Nacht könne sich das Tief über den »weiteren norddeutschen Bereich« ausbreiten. Orkanböen - insbesondere auf den ostfriesischen Inseln - könnten Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 150 Kilometern pro Stunde erreichen. Auswirkungen des Tiefs werden auch in der Mitte Deutschlands zu spüren sein.

Der DWD-Sprecher rät dringend dazu, in den betroffenen Regionen der Nacht von Freitag auf Samstag nicht aus dem Haus zu gehen. Vor allem in Waldgebieten sei die Situation »extrem gefährlich«.

bbr/apr/dpa/AFP