Nach den vier Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines kommt unserer Regierung nichts gelegener als die Spekulation über die Urheber der Anschläge. Damit wird die Aufmerksamkeit von den Gefahren der Berliner und Brüsseler Politik auf die Suche nach Schuldigen gelenkt.

Nord Stream Leck
© www.globallookpress.com The Swedish Coast Guard/XinHua
Die Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft hatten sich zuletzt überschlagen. Die Datenlage ist verheerend. Die Inflation, ein harmloseres Wort für Preissteigerungen, hat in Deutschland mittlerweile die 10-Prozent-Marke überschritten. Das bedeutet aber noch nicht das Ende der Fahnenstange. Denn die gestiegenen Erzeugerpreise von 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr sind in Handel und Handwerk bisher noch nicht in vollem Umfang angekommen. Mit einem Rückgang der Preissteigerungen ist also vorerst nicht zu rechnen.

Die Auswirkungen für Wirtschaft und Bevölkerung sind beängstigend. Mittlerweile müssen 60 Prozent der privaten Haushalte für ihren Lebensunterhalt auf Ersparnisse zurückgreifen, soweit solche überhaupt vorhanden. Selbst bei einem Monatseinkommen von 3.600 Euro soll am Monatsende nichts mehr übrig sein, und die überwiegende Mehrheit der Deutschen verfügt nicht über solch hohe Einnahmen. Kein Wunder, dass die Tafeln der wachsenden Zahl an Bedürftigen nicht mehr Herr werden und Aufnahmestopps verhängen müssen.

Dementsprechend halten sich die Menschen mit Ausgaben weitgehend zurück. Sie gehen vermehrt zum Discounter und kaufen Angebotswaren. So ist denn auch der Geschäftsklima-Index für den Monat September "auf breiter Front gefallen", wie das Ifo-Institut am 26. September meldete. Da die gestiegenen Preise nur eingeschränkt an die Kundschaft weitergegeben werden können, rechnet der Einzelhandelsverband (HDE) damit, dass etwa 20 Prozent der Befragten innerhalb der nächsten zwölf Monate in existenzielle Bedrängnis geraten.

Auch die Industrie gerät immer stärker unter Druck. Wegen der unsicheren Versorgungslage mit Energie und steigender Energiepreise denken 16 Prozent der Unternehmen über Verlagerung und Einschränkung energieintensiver Produktion nach. Zudem rollt eine Insolvenzwelle auf die deutsche Wirtschaft zu. Schon jetzt haben 3.200 Gesellschaften bei Wirtschaftsminister Habeck Unterstützung beantragt. Aber erst 24 haben bisher Zusagen erhalten. Eine Deindustrialisierung Deutschlands droht mit unübersehbaren Folgen für die Arbeitsplätze und die damit verbundene Stabilität der Gesellschaft.

Unmut in der Bevölkerung

Besonders im Osten äußerte sich der Unmut über die Lage und die Aussichten in Demonstrationen und Protesten. Handwerksorganisationen, Unternehmensverbände, Bürgermeister und kommunale Versorger schickten Brandbriefe an die Bundesregierung und wiesen auf die Gefahren hin, die die steigenden Energiepreise für die Versorgungssicherheit von Wirtschaft und Gesellschaft mit sich bringen. Lobbygruppen der Industrie und Unternehmerverbände drängen auf Maßnahmen zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland.

Der offene Protest bleibt bisher vereinzelt und konzentrierte sich weitgehend auf den Osten des Landes. Im Westen ist die Haltung der Bevölkerung abwartend. Man ist es gewohnt, dass Staat und Verwaltung Lösungen für Probleme finden werden durch den Einsatz finanzieller Mittel. Persönliches Engagement für die eigenen Interessen ist dort besonders in der arbeitenden Bevölkerung und unteren Schichten der Gesellschaft weitgehend verödet. Eine Selbstorganisierung findet kaum statt.

Dennoch schien auch im Westen der Druck der Verhältnisse zuzunehmen. Denn je näher der Winter rückte, umso umfangreicher wurden die Ankündigungen zur Gewährleistung der Energiesicherheit durch Einsparung und Einschränkung des eigenen Verbrauchs. Man schien sich doch zunehmend des Ernstes der Lage bewusst zu werden. Nur gingen diese Erkenntnis und Verunsicherung nicht so weit wie im Osten. Demonstrationen waren nur vereinzelt und mit geringer Teilnehmerzahl.

Regierungen in Bedrängnis

Dennoch schien man auch in Berlin und Brüssel zu merken, dass der Druck im Kessel der Gesellschaft stieg. Das zeigen die politischen Entscheidungen der letzten Tage. Heilige Kühe wurden geschlachtet. Die Gasumlage wurde ersatzlos gestrichen und der sogenannte Doppelwumms beschlossen. 200 Milliarden Euro sollen eingesetzt werden, um die Gas- und Strompreise zu deckeln. Die Mehrwertsteuer auf Gas wurde auf 7 Prozent gesenkt.

In der Rekordzeit von nicht einmal zwei Wochen hat auch Brüssel es Berlin gleichgetan und eine Abschöpfung von Übergewinnen der Stromerzeuger und Mineralölkonzerne beschlossen. Diese Preisdeckel bedeuten nichts anderes als die teilweise Rücknahme der Liberalisierung dieser Märkte und die Wiedereinsetzung der staatlichen Kontrolle. Das macht man nicht aus Jux und Tollerei, da muss schon Feuer unterm Dach sein.

Diese beschlossenen Preisdeckel sorgen erst einmal für Beruhigung in der Bevölkerung. Wenn auch noch nichts Genaueres über deren Ausgestaltung und Wirkung bekannt ist, so steigt doch die Hoffnung, dass alles nicht so schlimm werden wird. Zumindest ist die Gasumlage schon einmal vom Tisch. Das sorgte für ein Aufatmen, und mit der zusätzlichen Mehrwertsteuersenkung gewinnt die Bevölkerung den Eindruck, dass nun wirklich ernsthaft etwas zur Verbesserung ihrer Lage geschieht.

Aber Preisdeckel schaffen keine neuen Gasmengen. Sie begrenzen die Kosten, erhöhen aber nicht das Angebot. Eher ist im Gegenteil zu befürchten, dass die Neigung im privaten Bereich, Gas einzusparen, angesichts der Entlastung wieder schwindet. Während die Industrie aufgrund der hohen Energiekosten die Produktion einschränkte und dadurch weniger Gas verbrauchte, stieg auf der Gegenseite der private Verbrauch an wegen des kalten Wetters Ende September.

Da die Einsparpotenziale trotz aller Appelle erschöpft zu sein scheinen, rechnen Experten mit der Rationierung von Gas und Strom, wenn die Bezugsmengen nicht erhöht werden können. Und danach sieht es im Moment nicht aus. Zwar strömen entgegen aller antirussischen Propaganda täglich immer noch 42 Millionen Kubikmeter russischen Gases durch die Ukraine nach Deutschland. Jedoch gibt es Streit wegen der Durchleitungsgebühren, was zur Aussetzung der Lieferungen führen kann, falls es zu keiner Einigung zwischen der Ukraine und Russland kommt.

Wenn auch die Nord-Stream-Pipelines zuletzt kein Gas mehr lieferten, so ist mit deren Sprengung die letzte Aussicht zerstört worden, im Notfall doch noch einer Öffnung zuzustimmen, ehe man die deutsche Wirtschaft aufgrund von Prinzipienreiterei zugrunde gehen lässt.

Deutsche Regierung entlastet

Dieser Möglichkeit haben die Urheber der Sprengung einen Riegel vorgeschoben. Das muss auch als die Absicht des Vorhabens angesehen werden. Für die Deutschen darf es kein Zurück in die Arme russischer Gasversorgung geben, selbst wenn es wirklich zu den Aufständen kommen sollte, über die die deutsche Außenministerin vorlaut und unüberlegt schwadroniert hat.

Diese Sprengung hat nun eine gesellschaftliche Diskussion ausgelöst, die besonders der deutschen Regierung in diesem Zusammenhang gar nicht so ungelegen kommen dürfte. Zwar steigen die Probleme der Energieversorgung, aber dank der Sprengung ist der deutschen Regierung die Entscheidung aus der Hand genommen. Der Gewissenskonflikt zwischen Einhaltung der Sanktionen und der Fürsorge gegenüber dem eigenen Volk ist nun gelöst. Sie kann Nord Stream 2 nicht mehr öffnen (Pipeline inzwischen wenigstens teilweise wieder einsatzbereit, Anm. d. Red.).

Insofern kann man fast sagen, dass der Regierung nichts besseres passieren konnte in dieser Notlage. Zudem wird sie durch die Spekulation über die Hintergründe und die Schuldigen fast in den Rang eines Opfers gehoben. Viele Kommentare sprechen gar von einer amerikanischen Kriegserklärung gegen Europa oder Deutschland. Das wird nicht zu der erhofften Konfrontation Deutschlands gegenüber den USA führen, die solche Kommentatoren sich anscheinend wünschen und zu der sie die deutsche Regierung und Brüssel vielleicht glauben anstacheln zu können.

Berlin und Brüssel sind keine Opfer der USA oder gar einer amerikanischen Kriegserklärung. Sie sind Akteure in diesem Konflikt mit Russland. Das verschwindet unter diesem versuchten Schulterschluss zwischen NATO-Gegnern und Regierung. Deutschland wird sich deshalb nicht gegen die USA und an die Seite Russlands stellen. Dafür sind die Konfrontationen mittlerweile viel zu weit fortgeschritten und die Gräben zu tief.

Ausblick

Befand sich die Stimmung in der Bevölkerung vor dem Knall in der Ostsee in einem Zustand zunehmender Erregung, so ist sie inzwischen zu einem hoffnungsvollen Abwarten abgekühlt. Das ist weniger der Sprengung zu verdanken als vielmehr der Aussicht auf Erleichterung der Lage durch die Milliarden des Doppelwumms. Daran wird sich erst etwas ändern, wenn erkennbar wird, dass er die Hoffnungen nicht erfüllt oder wenn es aufgrund unzureichender Lieferungen zur Rationierung von Gas und Strom kommen sollte.

Trotz der zunehmenden Erregung in der Bevölkerung war deren Mobilisierung besonders im Westen schwierig. Protest und Widerstand waren vereinzelt und auch nicht klar auf ein konkretes Ziel ausgerichtet. Dem Großteil der Bevölkerung ging es vorrangig um die Versorgungssicherheit, brachte diese Forderung aber nicht massiv zum Ausdruck. Sie verhielt sich passiv, nicht zuletzt auch weil es an einer Organisation fehlte, die dieses Interesse und nur dieses eindeutig vertrat.

Denn die noch aktiven Teile der Friedensbewegung demonstrierten für den Frieden in der Ukraine. Die Handwerkerbewegung um Karl Krökel trat auch für Frieden ein, andererseits aber auch für die Nöte der eigenen Betriebe und der Bevölkerung. Die große Industrie verhielt sich staatstragend neutral und bevorzugte diskrete Verhandlungen im Hinterzimmer mit den Vertretern der Regierung. Weiterer Protest scheint angesichts der veränderten Lage durch Doppelwumms und Vierfachbumms in der Ostsee in seiner Ausrichtung unklar und deshalb wenig erfolgreich. Wofür soll mobilisiert werden? Es gibt im Moment keine Kraft im Wertewesten, die sich für eine Reparatur der Pipelines stark machen dürfte. Ob Russland noch ein Interesse daran hat, ist fraglich. Eine Empfänglichkeit für Protest in der Bevölkerung dürfte erst wieder vorhanden sein, wenn sich die Hoffnungen nicht erfüllen und Gas und Strom rationiert werden.

Dass diese Situation aber eintritt, darauf müssen sich die Kräfte vorbereiten, die bisher den Protest getragen haben. Man muss die Zeit nutzen, um stabile und dauerhafte Kontakte zwischen denen herzustellen, die sich in der Bewegung besonders im Osten bisher hervorgetan haben. Das waren die Handwerkerschaften in Dessau, Leipzig und den anderen Kreisen. Das waren die Bürgermeister und Versorger, die Protest unterstützt und gefördert haben. Und das waren die Kräfte besonders im Osten, die die Organisation von Demonstrationen und Protesten getragen haben.

Sie alle oder Vertreter von ihnen müssten ein Gremium schaffen, in dem sich über die Lage und die Entwicklung ausgetauscht und das weitere Vorgehen abgesprochen wird, damit zukünftiger Protest nicht weiterhin vereinzelt stattfindet und damit relativ wirkungslos. Vor allem aber muss eine eindeutige Forderung her, und die muss sich an den Interessen derer orientieren, die mobilisiert werden sollen. Das ist die Frage der Versorgungssicherheit.

Denn eines dürfte klar sein. Wenn es nun noch einmal zu Unruhe in der Bevölkerung kommen sollte, dann nicht aus Angst vor eventuellen Bedrohungen, sondern jetzt aufgrund von Gefahren, die tatsächlich eingetreten sind.